Mirackel, Zeichen, Schröcklichkeiten
Die Einblattdrucke der «Wickiana» der Graphischen Sammlung sind neu katalogisiert.
Allerlei Wundersames und Schreckliches weiss die Bildersammlung des Johann Jakob Wick (1522–1588), «Wickiana» genannt, über Ereignisse des 16. Jahrhunderts in ganz Europa zu berichten: Himmelserscheinungen, die als göttliche Zeichen gedeutet wurden, «Wundergeburten», Fehlbildungen bei Pflanzen, Tieren und Menschen sowie grausame Verbrechen und deren nicht minder grausame Bestrafung – um nur einige Themen zu nennen – sind hier nachzulesen und im reichen Bildschmuck der Einblattdrucke farbenprächtig anzusehen. Dieser europaweit bekannte und erforschte Bildbestand der Graphischen Sammlung wurde neu digitalisiert und kürzlich rekatalogisiert und bildet nun ein weiteres Glanzlicht im digitalen Angebot der Zentralbibliothek. Alle Einblattdrucke sind auch über e-manuscripta zugänglich.
Über Jahrzehnte hinweg hat der Zürcher Pfarrer am Grossmünster und Chorherr Wick in 24 Folianten (heute in der Handschriftensammlung) zusammengetragen und -geschrieben, was in den Flugblättern seiner Zeit an Neuigkeiten verfügbar war und ihm aus allen Richtungen zugetragen wurde. Die Blätter, die später wieder aus den Bänden herausgelöst wurden, erfüllten ganz unterschiedliche Zwecke: Sie informierten über aussergewöhnliche Himmelserscheinungen, die einerseits fantastischen Ursprungs scheinen, wie kämpfende Rosse (Abb. 1) oder über andere seltsame Wolkenformationen. Andererseits berichteten sie von wissenschaftlich nachweisbaren Phänomenen, wie Lichterscheinungen, die heute als Nordlichter erklärbar sind, oder von dem 1577 erschienenen Grossen Kometen, den auch Tycho Brahe beobachtete und beschrieb (Abb. 2). Sie bedienten die Sensationslust, wenn über Mord und Totschlag berichtet wurde und im selben Bild auch – oftmals die Leserichtung wechselnd – die blutige Sühnung von Verbrechen ausgiebig geschildert wurde.
Beten gegen den Papst
In ausführlichen Pamphleten wurde die reformierte Leserschaft gegen den Papst zu festem Glauben und Bussfertigkeit angehalten und in heute noch bekannten Porträts die Helden der Reformation gefeiert, von Jan Hus und Martin Luther über Ulrich Zwingli bis zu Heinrich Bullinger, mit dem Wick wohl in sehr engem Kontakt stand, da er als Zweiter Archidiakon einer seiner Stellvertreter war. Auch half Bullinger Wick durch seine internationalen Kontakte entscheidend beim Aufbau seiner Einblattdruck-Sammlung und zeichnete auch für die eine oder andere handschriftliche Notiz auf einem Blatt verantwortlich.
Besonders eindrücklich wird das Eindringen der Wissenschaft in die Alltagswelt nachgezeichnet: Naturwunder, vor allem bei Pflanzen, die übermässig Früchte trugen (Abb. 3) oder Fehlbildungen an Mensch und Tier wurden je nach darstellerischem Können detailliert abgebildet und im Begleittext beschrieben. Gestrandete Pottwale aus Flandern überliefern, einer gedruckten Wunderkammer gleich, den damals aktuellen Wissensstand über diese Tiere (Abb. 4) und Darstellungen fremder Völker wie der Inuit erweiterten den mitteleuropäischen Bild- und Geisteshorizont bis weit in den Norden (Abb. 5).
Fastenwunder und Mordkomplotte
Heute in ganz anderem Licht wie damals erscheinen die zahlreichen Hexenverbrennungen und der unterschwellige, bis direkte Antijudaismus, der aus einigen Blättern spricht. Die Berichte von «Fastenwundern» junger Mädchen mag man eher als Formen der Magersucht deuten und die grauenvollen Bestrafungen von Mördern, Seeräubern und anderen Verbrechern jagen wahre Schauer über den Rücken. Gleichzeitig beeindruckt die künstlerische Qualität der Bilder, wobei aus der allgemein meist schlichten Holzschnittkunst mit oftmals grober Schablonenkolorierung einzelne besonders hervorstechen. Künstler wie Tobias Stimmer schufen ikonische Darstellungen wie das bekannte Porträt von Heinrich Bullinger (Abb. 6).
Anonym gebliebene Meister beeindrucken aber ebenso mit ihrer Kunst, wenn beispielsweise in einer äusserst dynamischen Bildkomposition gleichzeitig eine Wöchnerin als Anstifterin zum Mord an ihrem schlafenden Gatten der die Tat ausführenden Magd die Kerze hält, während im Hintergrund in einem Bild eine Richtstätte dargestellt wird, wobei offen bleibt, ob hier bereits auf die Sühnung des Verbrechens verwiesen wird oder im Blick aus einem Fenster schon die tatsächliche Hinrichtung der beiden Frauen zu sehen ist. In dieser aufwendigen Bildkomposition und dem «Bild im Bild» wird die Meisterschaft des unbekannten Künstlers deutlich (Abb. 7).
Digitalisate in neuem Glanz
Mit der nun abgeschlossenen Rekatalogisierung der «Wickiana» der Graphischen Sammlung wird das digitale Bildangebot der Zentralbibliothek Zürich um einen wichtigen Bestandteil bereichert. Neue Digitalisate der Blätter erlauben ein detailliertes Studium von Bild und Text direkt am Bildschirm, durch die Anreicherung des Schlagwortkataloges wird auch die thematische Suche besser gefiltert. Literaturverweise erleichtern die Vertiefung in die Lektüre in der reichen Fachliteratur.
Der im 16. Jahrhundert umgehenden Angst vor dem Weltende mag man in dieser wort- und bildgewaltigen Chronik nun ebenso nachspüren, wie der unterschwellig wahrnehmbaren Hoffnung auf bessere Zeiten, wenn diese damals vor allem mittels Fasten und Beten und mit Gottes Gnade und Barmherzigkeit im Himmel erwartet wurden. Dass die Welt auch bald 500 Jahre später ebenso noch vorhanden ist wie seine Bilder, mag dem Sammler zum Wohlgefallen sein.
Anna Lehninger, Graphische Sammlung