ZBlog 2023
Massenupload einer exklusiven Sammlung: Die Sammlung Steinfels ist neu auf Wikimedia Commons
28. Dezember 2023
Wikimedia Commons
Neu befindet sich die Sammlung Steinfels der Graphischen Sammlung der ZB Zürich auf Wikimedia Commons. Dieser Upload ist ein Präzedenzfall: noch nie wurde ein so grosser Spezialbestand der ZB auf Wikimedia Commons zugänglich gemacht. Er eignet sich dafür bestens, da er historisch-authentisch als vollständige Sammlung erhalten und gut erschlossen ist. Dieser Bestand stellt ein seltenes Beispiel einer privaten helvetischen Sammlung aus dem späten 18. Jahrhundert dar. Die nach inhaltlichen Kriterien geordnete Sammlung traf mit einem nicht ganz vollständigen handschriftlichen Registerband von Johann Martin III Usteri-Escher (1754-1829) in der ZB ein, dem Sohn des Sammlers. Die Einzelstücke sind zusätzlich in einem «Zettelkatalog» aus den Jahren 1969-70 nachgewiesen und werden im Kulturgütermagazin der ZB aufbewahrt.
Die Plattform bietet Digitalisate mit CCO Lizenz (Public Domain) in hoher Auflösung (Extra Large bis 1889 x 2160 px jpg) kostenlos zur Verwendung an und macht die Bilder weltweit sicht- und nutzbar. Unter den rund 2100 Werken (ca. 1500 Druckgrafiken, 570 Zeichnungen und Aquarelle) dieser Zürcher Privatsammlung finden sich hunderte von Schweizer Künstlern stammende Ansichten, aber auch Karten, Darstellungen der damaligen technischen Errungenschaften, Archäologisches, alpine Sujets, Abbildungen von Naturkatastrophen und vieles andere mehr. Unter den Künstlern sind Daniel Düringer (1720-1786), Johann Melchior Füssli (1677-1736), Johann Caspar Ulinger (1703-1768) und weitere bedeutende Schweizer Maler, Zeichner und Druckgrafiker zu nennen. Angelegt wurde die Sammlung zwischen ca. 1770 und 1790 vom Zürcher Seidenfabrikanten und Kaufmann Hans Martin (Johann Martin II) Usteri vom Neuenhof-von Muralt (1722-1803) und war zu ihrer Zeit nur einer kleinen Elite zugänglich. Ihren digitalen «Derivaten» von heute jedoch sind keine Grenzen gesetzt.
Wieso «Sammlung Steinfels»?
Die Kollektion trägt den Namen ihres letzten Besitzers, des Chemikers Heinrich Wilhelm Steinfels (1874-1929), obwohl sie eigentlich «Sammlung Usteri-von Muralt» oder «Sammlung Usteri vom Neuenhof» nach ihrem Urheber heissen müsste. Dieser hatte selber als Dilettant gezeichnet. Usteri montierte die Werke auf Unterlagebogen von einheitlichem Format in 21 Bänden. Die zugehörigen handschriftlichen Betitelungen in brauner Tinte gehen vermutlich ebenfalls auf ihn zurück. Die Erwerbung von wertvollen Kulturobjekten wie Kunstwerken verlieh dem Sammler die Reputation eines Mannes von Welt und wohlhabenden Connaisseurs. Usteri genoss im damaligen Zürich den Ruf eines vorzüglichen Kunstkenners und gab anscheinend einige der Bilder eigens für seine Privatsammlung in Auftrag. Typischerweise wurden sie in extra dafür angefertigten Bänden oder Vorzeigemappen aufbewahrt und dann im privaten oder geselligen Rahmen als Prestige-Objekte zur Schau gestellt. Die Sammlung umfasst drei Viertel aller bis in die 1780er Jahre produzierten schweizerischen Landschaftsstiche.
Der ohne männliche Nachkommen gebliebene Sohn des Johann Martin III, Konrad Usteri-Wegmann (1795-1873), selbst ein bekannter Landschaftsmaler, verkaufte jedoch den Bestand an Pfarrer Heinrich Cramer in Zürich (1806-1874). Das Datum und den Beweggrund kennen wir nicht. Künstlerinnen sind in der Sammlung nicht vertreten. Dennoch machten sich Frauen verdient um die Bewahrung des Usteri-Erbes und schliesslich um die Ermöglichung von dessen Ankauf durch die ZB Zürich. Pfarrer Cramers Sohn lebte im Ausland, und die deshalb wohl als Erbin der Usteri-Sammlung bestimmte einzige Tochter, Barbara Luise (1838-1919), heiratete 1860 Jakob Friedrich Steinfels (1837-1898). Dadurch gelangten die Bilder in den Besitz der bekannten Zürcher Kerzen- und Seifenfabrikantenfamilie. Ein Sohn aus dieser Ehe, Heinrich Wilhelm Steinfels, stiftete 1925 die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, freilich nur als «Depositum». Fünf Jahre später, 1930, konnte sie von der ZB dank der Gönnerschaft von Emma Lina Escher-Abegg (1869-1949) - unter der Bedingung der Beibehaltung des Steinfels-Namens sowie der separaten Aufbewahrung als intakte Sammlung. Hermann Escher, Gründer und erster Bibliotheksdirektor der ZB, veröffentlichte am 4. Juli 1932 einen NZZ-Artikel über den geglückten Kauf der exklusiven Kollektion. «Unsere Kenntnis des alten Zürichs», so schrieb er, werde «in vollkommenster Weise durch eine Folge von Federzeichnungen bereichert». Weiter vermerkt Escher, dass die Sammlung «dank grosszügiger Hilfe den Weg in unveränderliches öffentliches Eigentum gefunden» habe. Mit dem aktuellen Upload auf Wikimedia Commons geht dieser demokratische Weg nun weiter.
Bilder lesen
Nicht nur Bücher aus der ZB, sondern auch unsere Bilder können «gelesen» werden. Was erzählt uns die Sammlung Steinfels über das Leben damals? Sachgetreue Darstellungen vermitteln uns Zeithistorisches und Zeittypisches, geben Aufschluss über das äusserliche Erscheinungsbild von Menschen und deren Umwelt, von Dingen und Tätigkeiten. Neben beispielsweise der Veranschaulichung von landwirtschaftlichen Arbeiten und Geräten führen uns die imposanten Gletscherzeichnungen von anno dazumal den heutigen Schwund dieser Landschaftsformer eindrücklich vor Augen. Doch nicht nur Konkretes lässt sich visuell ableiten: auch gesellschaftliche Konventionen, Besitzstand und soziale Unterschiede sowie die Stellung der Frau im Ancien Régime kommen in ihnen zum Ausdruck. Zudem verweisen die Bilder nicht selten auf frühere Werke und sind somit in einer kunsthistorischen Tradition zu verstehen. Und letztlich können wir auch unsere eigenen Geschichten über die Bilder legen oder aus ihnen schreiben.
Sujets
Den weitaus grössten Teil der rund 2100 Werke machen die Landschaftsdarstellungen aus, sogenannte Veduten, zwar vor allem jene aus dem Kanton Zürich. Diese topographischen Ansichten reichen von Stadtbildern über pastorale Landschaften bis zu ehrfurchtgebietenden Alpendarstellungen und verstehen sich auch als Symbole finanzieller, politischer und kultureller Macht. Sie widerspiegeln den Besitz von Land und Liegenschaften oder versetzen mancherorts die Arbeit auf dem Feld in ein arkadisches Idyll. Das Auge und die Sinne wurden durch diese künstlerischen Darstellungen trainiert, so dass eine bestimmte modische Sichtweise entstand. Eine weitere Kategorie bilden die Zeichnungen, die oft viel intimer daherkommen und mitunter eine beschönigende Version des damaligen Alltags zeigen. Schauen wir uns einige kleine Bildergalerien an.
Galerie von Herrenhäusern samt Familien und Freizeitaktivitäten
Gesellschaftliche Ungleichheit spiegelt sich in denjenigen Bildern, die herrschaftlichen Haus- und Landbesitz zelebrieren. In diesen Werken begegnet uns oft die Konvention der «Staffage», d. h. die Positionierung von Figuren oder Objekte im Bildvordergrund, die die Perspektive betonen und die betrachtende Person miteinbeziehen. Kompositorische Schemata, wie Massstab, Dimension, Grösse, Platzierung oder Körperhaltung von Porträtierten, geben uns Hinweise, wie das Bild zu lesen ist. In der Radierung des Château Richenbach von Ludwig Nöthiger (1719-1782) beispielsweise dominiert der Garten im französischen Stil: Das kleine Boot und die winzigen Figuren im rechten Vordergrund sollen den Eindruck von der Grösse des Geländes unterstreichen. Dem gleichen Ziel dient auch der unermessliche Himmel, wobei dieser eigentlich eine Übernahme aus der klassischen Ölmalerei ist. Idealisierte Familienszenen finden sich in den Werken genauso wie die standesgemässen Freizeitvergnügen der Männer, so etwa die Jagd. Der Alltag der weniger begüterten Schicht erschliesst sich uns aus der 124 Zeichnungen zu Zürich und Umgebung beinhaltenden Serie des als Ofenmaler bekannt gewordenen Künstlers Jakob Kuhn (1740-1816). Hier finden sich bescheidenere Behausungen, dargestellt in unprätentiöser, wirklichkeitsnaher Manier.
Galerie von Veduten und klassischen Ansichten
Diese Abbildungen haben sowohl dokumentarischen wie auch definierenden Charakter. Sie führen zwar wirklichkeitsgetreue Darstellungen von Ortschaften und Städten vor Augen, sind aber manchmal von einem glorifizierenden Patriotismus geprägt und formten und festigten damit das Selbstbild und die Identität des Bürgertums. Schon damals gab es unter den Städten der Eidgenossenschaft einen Wettstreit um Ansehen und Vormachtstellung. Embleme, Wappen und Inschriften fungieren als Symbole des Prestiges. Die meist sehr detaillierte Wiedergabe der Bauten ist von unschätzbarem Wert für die Rekonstruktion der damaligen Stadtbilder, für die Kenntnis ihrer Entstehung und Geschichte sowie letztlich für unser Verständnis der früheren städtischen Lebensformen. Neben Abbildungen herrschaftlicher und vornehmer Bauten stossen wir auch auf einfachere und ärmlichere Behausungen, welche dem Zahn der Zeit nur höchst selten standhielten. Der Blick auf diese andere Welt war in der Kunst jener Zeit eher ungewöhnlich, und so sind diese Zeugnisse von ganz besonderem Wert.
Galerie von Pastoralen Ansichten samt landwirtschaftlichen Aktivitäten
Das Genre des Pastoralen in Kunst und Literatur geht von einer idealisierten Vorstellung des Landlebens aus, in dem Viehzucht und Landwirtschaft von genügsamen Bauern im Einklang mit den Jahreszeiten und dem Wetter betrieben werden. Dieses idyllische Bild einer heilen, unverdorbenen Welt wurde im 17. und im 18. Jahrhundert mit der Wende zur «Empfindsamkeit» vor allem von gebildeten Stadtbewohnern gepflegt.
Auch der Seidenfabrikant Usteri, Besitzer einer Grossmanufaktur, wusste künstlerische Darstellungen eines solchen «Arkadiens» zu schätzen. Seine Sammlung enthält etliche Beispiele dieses Bildtypus, welche besonders von David Herrlibergers (1697-1777) ruhigen, bukolischen Szenen verkörpert wird. Eine frühere, an einem Holzschnitt aus der letzten Ausgabe von Stumpfs «Schweytzer Chronick» angelehnte prächtige Federzeichnung von Johannes Meyer (1655-1712) vom Kloster Beerenberg, entstanden 1674, zeigt alte Ruinen, im Hintergrund einen Hirten mit seiner Herde und im Vordergrund Hunde und einen antikisierten Jäger an einer Brunnenquelle. Diese Szenen sind völlig imaginär. Neben solchen idealisierten Szenen gab es jedoch auch diverse Darstellungen einer eher irdischen Version des Landlebens, so beispielsweise in der Darstellung von Holzfällern an der Birs (1622-24) von Matthaeus Merian, wenngleich auch diese kräftigen Gestalten etwas romantisiert und heroisiert scheinen. Einen Mittelweg zwischen stilisiert und wirklichkeitsnah finden wir in Daniel Düringers (1720-1786) Ansichten vom Leben in den Alpen. Ein weiteres bukolisches, aber realitätsnahes Bild aus dem 18. Jahrhundert zeigt die lebensechte Figur eines schlafenden Hirten, dessen Schafe unbeaufsichtigt weiden.
Galerie von Berglandschaften
Der «Berg» ruft andere Emotionen hervor: Staunen, Bewunderung und Ergriffenheit beim Anblick grandioser Gipfel und beim Ausblick von ihnen oder bei der Betrachtung imposanter Wasserfälle. Solche Ehrfurcht wurde im 18. Jahrhundert kultiviert. Sie war Ausdruck der Sensibilität des verfeinerten und gebildeten Menschen, der in Berührung mit sowohl den Ideen der Aufklärung und Klassik als auch dem Gefühlskult der «Empfindsamkeit» und der beginnenden Romantik gekommen war.
Die Bewunderung der unverdorbenen Natur, Kennzeichen folglich für die Lauterkeit und den gesellschaftlichen Rang der Person, wurde durch die damaligen «Influencer» aus England, Frankreich und Deutschland – adelige und vermögende Reisenden auf der Grand Tour – angeregt und prägte, gefördert durch die Literatur, den europäischen Kunstgeschmack. Die Schweiz mit ihren Naturschönheiten galt als besonders pittoresque. «Une belle veüe dans la Comté de Sargans», gestochen von Johann Caspar Ulinger (1703-1768), verdeutlicht denn auch anhand der Körperhaltung der zwei männlichen Bildfiguren im Vordergrund, wie die Landschaft gebührend zu bewundern sei. Die sogenannten «Schweizer Kleinmeister» bemühten sich um Bilder der Natursehnsucht für Reisende und Einheimische zugleich. Grandiose, überwältigende und teilweise auch furchterregende Versionen der Schweizer Berglandschaft lagen im Trend. Auch von Usteri in Zürich wurden sie angekauft.
Von den Menschen des 18. Jahrhunderts wurden die Gletscher für unheimliche Überbleibsel und Kuriositäten aus der Eiszeit gehalten. So erstaunt denn nicht, dass ihre Abbildungen zuweilen fast an gigantische zackige Zuckerglasuren erinnern.
Besonders bei den Zeichnungen gibt es auch ungezwungenere, weniger schematische Darstellungen von Alpenlandschaften. Von Schweizer Künstlern wie Emanuel Büchel (1705-1775), die Verbundenheit mit ihren Bergen empfanden, wurden sie schwungvoll und viel weniger schroff gezeichnet und topographisch sehr präzis wiedergegeben. Auf uns heutige Betrachter(innen) wirken solche Bilder «natürlicher» als die «naturverherrlichenden» Varianten. So suggerieren beispielsweise Salomon Gessners (1730-1788) Radierungen statt Furcht und Ehrfurcht vor den Bergriesen eher Vertrautheit mit ihnen und ein Gefühl der Geborgenheit.
Galerie von Naturkatastrophen und Technik
Darstellungen von Unwettern und Katastrophen - Überschwemmungen, Feuersbrünste, Erdrutsche und Lawinen - gibt es überraschend viele. Sie übten mit ihren eindringlichen Bildern der zerstörerischen Kraft der Natur eine besondere Faszination aus. Dokumentiert wurden solche Ereignisse von den Künstlern teils im Andenken und zur Erinnerung an das mit ihnen verbundene menschliche Leid, teils aber gewiss auch aus Vorliebe für Sensationelles. Es existieren sogar «Vorher und Nachher»-Serien. Es ist kaum vorstellbar, dass solche «Schocker» in Salons und guten Stuben aufgehängt wurden. Nichtsdestotrotz liess dieses Genre Sammlerstücke besonderer Art entstehen.
Usteri sammelte des Weiteren faszinierende Abbildungen der zeitgenössischen Technologie oder der technischen Neuheiten und Errungenschaften. Physik, Ingenieurwesen und Kriegshandwerk machen eine erhebliche Sektion dieser Sammlung aus. Abbildungen modischer Bäderorte und ihrer Anlagen sowie archäologische Sujets zeugen vom Interesse des Sammlers an Wissenschaft und Geschichte. Eine Skizze von Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) zeigt die Passerellen-Konstruktionen zum Thermalwasser in der Tiefe der Taminaschlucht und kombinierte sozusagen die Novitäten aus den Fachgebieten Ingenieurwissenschaften, Geologie und Balneologie.
Kartographie
Rund 30 Werke der Sammlung Steinfels stellen geographischen Karten dar. Da sie von den Spezialistinnen der ZB als Kartenmaterial erschlossen und katalogisiert wurden, sind die Metadaten dementsprechend mit Geo-Koordinaten und weiteren kartographischen Merkmalen versehen. Besonders erwähnenswert scheint die wertvolle Manuskriptkarte zu Stallikon von Hans Konrad Gyger (1599-1674) von circa 1650.
Der Upload
Der Anstoss zum Upload-Projekt ging von einem ZB-Workshop im Juni 2021 aus, in welchem unsere institutionelle Partizipation am gesamten «Wikiversum» thematisiert wurde. In der Folge bereitete ein vierköpfiges Team aus den Abteilungen ZB Lab, Liaison Librarians, Metadaten Management und der Graphischen Sammlung den Upload der Sammlung Steinfels auf Wikimedia Commons vor. Für die Mapping-Diskussionen waren in den Jahren 2021 und 2022 zahlreiche Sitzungen nötig. Es galt, das Bibliotheksformat MARC21 in das Wikimedia Commons Template für «Artwork» zu mappen. Da das Projekt neben der alltäglichen Arbeit verfolgt wurde, kam es nicht so zügig wie erhofft voran. Zu Beginn war das Know-How gar nicht vorhanden, und vieles musste in Kürze gelernt und angeeignet werden.
Als besonders knifflige Aufgaben erwiesen sich IIIF (noch nicht verfügbar auf Wikimedia Commons aber vorhanden auf den Plattformen der Quelldaten), das zu erzielende Format oder die Auflösung der Bilddateien (Jpg, TIF, Grösse?) sowie die Heterogenität der Ur-Metadaten, die über eine längere Zeitspanne nach ganz unterschiedlichen Standards entstanden waren. Die daraus resultierenden Probleme sind teilweise bis heute nicht optimal gelöst.
Zudem musste die Zitierformulierung der besitzenden Institution bestimmt und festgelegt werden. Ferner entpuppten sich die historischen Signaturen der alten Sammlung als völlig ungeeignet für eine digitale Aufbereitung. Als interessantes Hindernis erwies sich die spezifisch bibliothekarische Verwendung der verschiedenen Klammern (spitze, runde, eckige). Diese haben nicht in jeder Programmiersprache dieselbe Bedeutung. Und vor spezielle Schwierigkeiten stellte uns die Forderung des unique identifier: sämtliche Werktitel mussten für die Datenverarbeitung eindeutig sein - ein erhebliches Problem, da nicht wenige Titel fingiert werden mussten, so etwa mit dem Behelf «Ansicht von Zürich», welcher dann bei der Recherche zu hunderten von Treffern führte. Zur Identifizierung verhilft die mitgelieferte (allerdings sperrige!) ID-Nummer des einzelnen Datensatzes aus dem Katalogisierungssystem.
Bei den Test-Uploads Ende 2021 stellten wir fest, dass das klassische, Java-basierte Import-Tool «Pattypan» nicht funktionierte. Ein «Import Wizard» (ein Dienstprogramm für Service Management, das den Import von Batch-Daten aus anderen Anwendungen vereinfacht) wurde vergebens gesucht. Erfreulicherweise erschien aber bis im Frühling 2022, als wir für den definitiven Upload bereit waren, eine neue Pattypan-Version. Das Projekt zwang uns, eigene Entscheidungen aus früheren Projekten und Workflows nochmals zu überdenken, d. h. Dubletten zu katalogisieren und Bilder nicht als Werkgruppen zu erschliessen, da sie andernfalls fatalerweise zu Lücken auf Wikimedia Commons führen würden. Dank den elektronischen Plattformen e-rara und e-manuscripta und ihrem ID-Systems liessen sich die «Kandidaten» für den Steinfels-Import effizient identifizieren und die einzelnen Bilder taggen. Der Haupt-Import erfolgte dann im Mai 2022 - mit kleinen Nachlieferungen mittels des Pywikibots.
Ausblick
Die Geschlossenheit und Reichhaltigkeit dieser grossartigen Sammlung macht sie so besonders. Als Dokument der Lebens- und Geisteswelt des Zürcher Patriziats des 18. Jahrhunderts erschliesst und entschlüsselt sie uns, zumindest partiell, ein Stück Vergangenheit der Schweiz, ihrer Natur und ihrer Menschen.
Wikimedia Commons präsentiert sie in einer hervorragenden Bildqualität: Einzelne Federstriche können per Zoom-Funktion in minutiösen Details untersucht werden - mit einer Präzision, die am Original unmöglich ist. Das Recherchieren hingegen verläuft über die Bibliothekskataloge (swisscollections, swisscovery) zweifellos schneller und erfolgreicher. Auch was die ausführliche Beschreibung und Kontextualisierung eines Bildes (Metadaten) anbelangt, erweist sich der Bibliothekskatalog als unersetzlich. Die Diskrepanz zwischen den sehr reichhaltigen Metadaten und ihrer erforderlichen Standardisierung für die Nachnutzbarkeit bleibt für uns noch ein zu bewältigendes Problem.
Als Anreicherung der Bildbeschreibung auf Wikimedia Commons sind gewisse «strukturierte» (d. h. verifizierte und mit Identifier ausgerüstete) Begriffe wie Personen und Geographica mit einer ergänzenden Wiki-Datenquelle verlinkt, nämlich Wikidata, via SPARQL Endpoint: in diesem Werk beispielsweise ist der Künstler Johann Melchior Füssli mit seinem Wikidata-Eintrag verlinkt.
Derzeit sind die Umstrukturierung und der Ausbau von Wikimedia Commons im Gange: Künftig sollen die Metadaten anstatt in Templates direkt in Wikibase erfasst werden. Es ist geplant, für fällige Aktualisierungen der Steinfels-Metadaten auf Wikimedia Commons das Datenverarbeitungs-Tool OpenRefine einzusetzen. So lässt sich sagen, dass die ZB für kommende weitere Wiki Aktivitäten bereits über einen erheblichen Erfahrungsschatz verfügt.
Graphische Sammlung und Fotoarchiv |
Dank Spuren am Objekt zu einer Einbandrekonstruktion in der Restaurierung
19. Oktober 2023
Gemäss dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DEDS.de) ist eine »Spur» eine Reihe von Anzeichen, Merkmalen, die zum Aufenthaltsort einer gesuchten Person oder Sache, zur Aufklärung eines Verbrechens, zur Entdeckung von etwas Verborgenem führt.
Nicht zur Aufklärung eines Verbrechens führten gefundene Spuren wie Aussparungen im Holz und im Pergament, Reste von Pergamentriemchen oder Holzpflöcke (gekennzeichnet mit roten Pfeilen), sondern zur Vorgehensweise in der Restaurierung des Objektes Ms C 147 «Theorica planetarum».
Spuren… sind zuerst frisch und deutlich zu erkennen, aber mit der Zeit werden sie unscharf und sind immer schwieriger zu deuten…
Was sagen diese Spuren? Was tun? Der folgende Text demonstriert, wie die Interpretation von Spuren am Objekt eine Einbandrekonstruktion ermöglicht hat.
Das Objekt
Ms C 147 besteht aus fünf Holzplatten, 16,5 cm x 16,0 cm gross, mit aufgeklebten Pergamenttafeln, bei welchen einzelne Elemente drehbar sind (Fotos 1 bis 3).
Der Katalog der Zentralbibliothek enthält folgende inhaltliche Angaben: «Sieben Instrumente mit Drehscheiben aus Pergament, montiert auf fünf buchartig zusammengefügten Holztafeln […] Es handelt sich um Instrumente zur Feststellung der aktuellen Stände von Sonne, Mond und Planeten, ein so genanntes 'Aequatorium planetarum'. Das Aequatorium ist hergestellt nach den Vorgaben in Campanos da Novara Traktat ‘Theorica planetarum’.»
Bei den Pergamentstücken handelt es sich zum Teil um wiederverwendete Blätter, auf deren Rückseiten ein unbekannter Text steht, wohl eine grammatikalische Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert.
Fragen
Birgt der Inhalt noch heute Rätsel, so tat es zu Beginn auch die Konstruktion des Einbandes. Die Holzplatten waren durch geklebte Leinenfälze (Foto 4) miteinander verbunden und mit einem Pergamentrücken bezogen. Der Rücken sowie die Fälze lösten sich, da kein Platz im Falz zum Blättern bestand (Foto 3).
Was tun?
Auf den ersten Blick erschloss sich schon, dass dies nicht der Originaleinband sein konnte. Dafür waren die Gewebefälze viel zu modern und die Mechanik nicht funktionell. Würde man den Einband in dieser Form restaurieren, bestünde die Gefahr,
dass die Bindung wieder schnell Schaden nehmen würde.
Es stellte sich die Frage, wie der Originaleinband aussah.
Wie in der Restaurierung üblich, wurde mit der Dokumentation begonnen und der Ist-Zustand fotografisch festgehalten. Nach der Trockenreinigung wurden die Leinenfälze entfernt und die stark mit Klebstoff verklebten hinteren Kanten der Holzplatten gereinigt.
Dabei traten Spuren einer älteren Einbandkonstruktion ans Licht (Foto 5 und 7): kleine Vertiefungen, je zwei an der Vorder- und an der Rückseite der hinteren Kante, versetzt um 6 mm und Reste von Holzpflöckchen.
Um die Rückseiten der schon teilweise angelösten Pergamenttafeln (Foto 6) für die Forschung digitalisieren zu können, wurden sie komplett gelöst.
Dabei wurden weitere Spuren wie Pflöckchen, Vertiefungen, Aussparungen (Foto 7) wie die einer älteren Einbandkonstruktion sichtbar: Reste von Pergamentriemchen an Holzpflöckchen (Foto 8 und Foto 9).
Wie in der Restaurierung weiter vorgehen? Wie können diese gefundenen Spuren dabei helfen, das weitere Vorgehen zu bestimmen? Wie können sie interpretiert werden?
Recherche
Es folgte eine Recherche in Fachbüchern, im Internet und im Austausch mit FachkollegInnen nach historischen Verbindungstechniken von Holztafeln, wie beispielsweise der Bindung eines Wachstafelbuchs (Foto 10). Sie führte aber leider zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis, da sie nicht zu den vorgefundenen Spuren passten.
Bei einer französischen Archivbindungstechnik (Mustereinband, hergestellt in einem Praktikum in einer Restaurierungswerkstatt in Frankreich, sogenannte Reliure de Milan, Fotos 11 und 12) existiert eine Verschlusstechnik mit versetzten Pergament- bzw. Lederriemen und einem durchgeführten Holzstab. Wenn auch ungewöhnlich, könnte das eine Möglichkeit sein?
Würde die Konstruktion funktionieren, böte sie die Gelegenheit, die Tafeln separat zu nutzen und sie zu «blättern». Die Pergamentriemen waren wahrscheinlich der Schwachpunkt der Verbindung. Sind deswegen die Holzpflöckchen da? Sind sie ein Hinweis auf eine nachträgliche Reparatur, um den Riemen mehr Halt zu geben?
Muster
Um die Vermutung zu verifizieren, wurde ein Muster angefertigt.
In den Fotos 13 und 14 kann man die Parallelen zwischen den Originalspuren und dem Verschlussmuster erkennen.
Die Konstruktion funktionierte. Bei der Manipulation des Musters lösten sich die Pergamentriemchen unter Belastung zum Teil wieder, was tatsächlich die Pflöckchen im Original erklären könnte.
Aufgrund der hohen Übereinstimmung der Spuren und der funktionierenden Einbandtechnik wurde entschieden, den Einband in dieser Form zu rekonstruieren.
Rekonstruktion
Da keine hundertprozentige Sicherheit besteht, ob die Rekonstruktion wirklich dem Originaleinband entspricht, bestand der Anspruch, dass die Originalspuren intakt bleiben. Somit wurden nach der Digitalisierung der Rückseiten die Pergamentriemchen auf die Holztafeln geklebt, aber nicht mehr in die Vertiefung eingearbeitet. Die Originalspuren wie Schlitze im Pergament oder die Holzpflöckchenreste blieben unangetastet.
Die Tafeln wurden mit Japanpapierfälzchen an den Holzplatten befestigt. Die reversible Befestigungstechnik ermöglicht zudem auf Luftfeuchtigkeitsschwankungen zu reagieren, ohne Spannungen zu verursachen.
Die Pergamente auf den beiden äusseren Holztafeln (Vorder- und Hinterdeckel) wurden niedergeklebt und mit Japanpapier ergänzt. Darauf folgten Retusche-Arbeiten und das Einführen der Holzstäbe.
Das Ergebnis einer Spurensuche!
Bestandserhaltung |
Die Zentralbibliothek Zürich scannt mit Google Books
17. August 2023
Steht der Untergang des Abendlandes nun bevor? (Wahrscheinlich nicht.) Schaffen Bibliotheken sich nun endgültig ab? (Mitnichten!) Nichtsdestotrotz löst die Kooperation zwischen einem der grössten Tech-Unternehmen der Welt und einer Bibliothek wenn nicht Befremden, so doch eine gewisse Skepsis aus. Doch worin besteht diese Kooperation überhaupt?
Die seit 2010 laufende schweizerische Kooperationsplattform e-rara für digitalisierte Alte Drucke, Musikalien, Graphiken und Karten hat im April 2023 die Marke von 100'000 digitalisierten Objekten geknackt! Das ist super! In Zeiten softwareunterstützter Massendigitalisierung von Büchern fällt die Zahl jedoch – gemessen an den verfügbaren Beständen – gering aus, handelt es sich bei der Retrodigitalisierung doch um ein ressourcenintensives Unterfangen, das kostspielige Hardware, technische Infrastruktur, massive Datenverarbeitungs- und Speicherkapazitäten sowie personelle Ressourcen voraussetzt. Die ZB Zürich ist daher 2019 zusammen mit drei weiteren Schweizer Bibliotheken (UB Bern, ZHB Luzern, UB Basel) eine Public Private Partnership mit Google zur Digitalisierung ausgewählter Bestände eingegangen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit sollen über 300'000 Bücher innert kurzer Zeit digitalisiert und der Allgemeinheit und Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Das Projekt Google Books
Im Jahr 2005 als «Google Books Search»-Projekt gestartet, umfasst die Plattform «Google Books» heute über 40 Millionen Bücher in digitalisierter Form (Stand 2019), auf die kostenfrei und von überall zugegriffen werden kann. Während in den USA anfangs shelf-cleaning-scanning betrieben wurde, d.h. ganze Magazine von A-Z durchgescannt wurden, ohne Rücksicht auf Urheberrechte oder Kollektionszugehörigkeit, werden heutzutage – nach einer Reihe juristischer Auseinandersetzungen – vor allem Inhalte von Verlagspartnern und konfliktarme Bestände von Partnerbibliotheken gescannt. Anders verhält es sich in Rahmen der Public Private Partnerships mit den europäischen Bibliotheken: diese lassen ausschliesslich ihre urheberrechtsfreien Bestände von Google digitalisieren. Während Google somit permanent mit Büchern durch die Bibliotheken versorgt wird, profitieren die Bibliotheken ebenfalls in mehrfacher Hinsicht: ein (Teil-)Bestand ist digital verfügbar, der Link zu Google Books kann im Katalog implementiert werden, die Scans werden mit OCR erschlossen und die finanziellen Aufwendungen halten sich im Rahmen, da Google für den Transport, die Versicherung und die Digitalisierung der Bücher und die Prozessierung der dabei entstandenen Daten (Bildbearbeitung, OCR, Metadaten) aufkommt.
Projektkooperation Google Books mit Schweizer Bibliotheken
Als vergleichsweise «späte» Partner des Google Books Projekts, operieren die Schweizer Bibliotheken mit sogenannten «Candidate Lists», die diejenigen von Google vorselektierten Bestände einer Bibliothek umfassen, welche noch nicht auf Google Books verfügbar sind. Im Fall der ZB Zürich enthält diese Liste ca. 160'000 Titel, von denen – vorbehaltlich der konservatorischen Vorkontrolle – ein Grossteil in den nächsten etwa zwei Jahren digitalisiert wird. Um bei diesen Mengen einen Überblick zu behalten, nutzen wir die Workflowsoftware der Firma ImageWare. Diese bildet den Prozess vom Ausheben der Bücher im Magazin mit Laufzetteln, über die Abwicklung der benötigten Dokumente für den Zoll, sowie Reports (Metadaten, Bücherlisten) für Google, bis zur Einspielung der Links zu den fertig digitalisierten Büchern auf Google Books ab.
Vorgang ZB Zürich
Unser tatkräftiges Magazinerteam hebt die Bücher anhand der Liste aus und kontrolliert die formalen Bedingungen (Grösse, Breite, grober Zustand des Buches, Kurz-Metadaten). Bei der konservatorischen Vorkontrolle durch unsere Restauratorinnen werden die Bücher auf ihren Zustand (Schäden, Öffnungswinkel) überprüft und entweder geflickt oder aus dem Workflow genommen. Anschliessend werden die für den Versand vorgesehenen Bücher in der Workflowsoftware in einer Charge verbucht, verpackt und beschriftet. 20 Chargen à ca. 250 Bücher ergeben jeweils eine Lieferung von etwa 5000 Büchern, die monatlich nach München ins Scanzentrum von Google transportiert, gescannt und wieder zurückgeliefert wird. Da die Bücher dabei die Grenze von einem nicht-EU-Land und der EU passieren, muss für jede Lieferung ein Zolldokument (Carnet ATA) von der Handelskammer Zürich ausgestellt werden, um die Zollrichtlinien zu erfüllen.
Scanning und Image Processing
In München werden die Bücher an von Google selbst entwickelten Scanstationen digitalisiert und die Bilder maschinell weiterverarbeitet. Zum Anfertigen der Scans wird jede Doppelseite (je die rechte und linke Seite) von zwei hochauflösenden Kameras fotografiert sowie von oben mit einer Infrarotkamera erfasst. Ein spezieller Algorithmus fügt die fotografierten Bilder zu einem dreidimensionalen Bild zusammen, welches anschliessend «flach» gerechnet wird, wobei der Eindruck einer planen Seite entsteht. Weitere Prozessschritte umfassen die Beschneidung der Ränder (Cropping), die Anpassung der Kontraste, die Retuschierung der Finger, die Konvertierung der Farben in Graustufen. In einem weiteren Prozess werden die Metadaten aufbereitet: zusammengehörige Bände werden einer Reihe/Ausgabe zugewiesen (Clustering).
OCR
Den für die Suche fundamentalsten Schritt trägt die Texterkennung bei. Bei der Durchführung der «Optical Character Recognition» (OCR) hat Google zuletzt wesentliche Fortschritte erzielt, so dass heutzutage etwa 60 Sprachen vollständig und knapp 40 teilweise unterstützt, ausserdem diverse Alphabete (arabisch, griechisch, thai, japanisch, lateinisch, und diverse weitere) und teils handschriftliche Systeme erkannt werden. Um Text aus Bildern identifizieren zu können, wird zunächst das Layout einer Seite und die Schriftrichtung analysiert. Die separierten Zeilen, Spalten und Wörter werden auf Schrift(en) und Stil(e) untersucht. Verschiedene Datenmodelle (Multi-Script Recognizer, n-Gram Language Model, Graph Convolutional Networks, Layout Postprocessing) berechnen sodann unter Einbeziehung diverser Parameter die wahrscheinlichsten «Übersetzungen» eines Scans, indem Satzanfang- und Ende, Sprache(n), Schrift, Zeilenlänge, Absatz- oder Spaltenanfang sowie -Ende, Leseweg und Füllmaterial (Bilder, Verschmutzungen, Nicht-Text) erkannt und mit den Datenmodellen abgeglichen werden. Daraus entsteht im Optimalfall ein beinahe fehlerfreier, maschinenlesbarer Text, der Suche und Text Mining begünstigt.
Nutzerstatistik und Beispiele aus unserem Bestand
Beim ersten aus unserem Bestand auf Google Books aufgeschaltete Buch handelt es sich um die 1895-er Ausgabe der Zeitschrift «Puck». Inzwischen sind tausende weitere Bücher aufgeschaltet worden. Die beiden aus unserem Bestand bisher beliebtesten Buch sind Rime sowie Tercüme-i Sihah il-Cevheri, wie uns ein Blick auf unsere interne Nutzerstatistik verrät.
Qualität
Gemessen an den Qualitätsstandards, an welchen e-rara sich orientiert, schneiden die Google-Digitalisate im Gesamtpaket grösstenteils schlechter ab (Qualität der Scans und der Vorschau, Metadaten), die technischen Innovationen und sukzessive Re-Prozessierung der Daten schliessen die Lücke allerdings merklich.
Ausblick
Neben der verbesserungswürdigen Qualität der Metadaten und Scans, besteht ein noch grosses Potenzial in Bezug auf die freie Zugänglichkeit der Bilder und Daten für die Forschung. Das Google n-gram-Tool zeigt, welche Spielereien mit grossen Datenmengen möglich sind. Trotzdem wird der Zugang zu den Daten restriktiv behandelt, selbst wenn es sich – wie im Fall der europäischen (und einiger US-Partner) – um Public-Domain-Daten handelt. So sind Massendownloads von Datensets direkt von Google Books bisher nicht erlaubt bzw. erfordern bei grösseren Sets ein separates Agreement der betreffenden Institution mit Google. Die Implementierung innovativer Schnittstellen wie die IIIF-API sind ein weiteres Desiderat, ebenso wie die Möglichkeit, Kollektionen & Datensets in Google aufzubauen, zu pflegen und diese Daten zu nutzen oder nutzen zu lassen. Insbesondere Bibliotheken und andere kulturelle Institutionen könnten so einen noch grösseren Beitrag leisten, in den Digital Humanities neue Wege und Herangehensweisen an digitale Materialien zu eröffnen oder zu etablieren, sei es durch die Bereitstellung von Datensets für Hackathons, sei es durch eigene Entwicklungen in Labs und in Zusammenarbeit mit Forschenden.
Mitarbeiterin Abteilung Alte Drucke und Rara |
Familienarchiv Hirzel wird restauriert
15. Mai 2023
Mit Unterstützung der Familienstiftung Hirzel sichert die ZB das Archiv eines der bedeutendsten Zürcher Bürgergeschlechter für künftige Generationen.
Mitglieder der Familie Hirzel prägten die Geschichte Zürichs vom 16. bis 19. Jahrhundert als Bürgermeister, Räte und Landvögte. Sie waren Offiziere, Pfarrer und Gelehrte. Das Archiv dieser einflussreichen Familie kam 1900 in die damalige Stadtbibliothek. Heute ist es in der Handschriftenabteilung der ZB zugänglich und wird von Forschenden rege genutzt.
Briefe der Aufklärung
Besonders nachgefragt sind die über 2’300 Briefe samt Beilagen aus dem Nachlass des Stadtarztes Hans Caspar Hirzel (1725-1803). Kein Wunder: Jean-Jacques Rousseau, Jakob Gujer genannt Kleinjogg, der Brugger Arzt und Lavater-Freund Johann Georg Zimmermann, der Philosoph Johann Georg Sulzer, der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock oder die Salonnière Sophie von La Roche sind nur einige der bekannten Namen, die darin auftauchen.
Eine diplomatische Mission im Tagebuch
Ein anderes Highlight ist das Pariser Tagebuch von Salomon Hirzel (1580-1652). Darin notierte er 1634-1635 seine Eindrücke als Teilnehmer an der Mission der Eidgenossenschaft betreffend die Handelsprivilegien. Neben Briefen und Tagebüchern umfasst das Familienarchiv Hirzel zahlreiche andere interessante Materialien, etwa Akten zum Stipendienfonds, den Salomon Hirzel stiftete, Chroniken und Stammtafeln, Militaria und Schriftstellerisches, aber auch Objekte wie Kupferplatten für Porträtstiche und eine Siegelsammlung.
Restaurierungs- …
Das Familienarchiv Hirzel in der ZB ist grundsätzlich in gutem Zustand. Gleichwohl sind im Laufe der Jahrhunderte Schäden entstanden, die nun restauratorische Massnahmen notwendig machen. Ein typisches Schadensbild ist der so genannte Tintenfrass – ein chemischer Abbauprozess historischer Tinten, der zur Zerstörung des beschriebenen Papiers und damit der Dokumente führen kann. Häufig sind auch über die Jahrhunderte brüchig gewordene Faltstellen und Blattränder, bestossene Ecken von Bucheinbänden und beschädigte Siegel.
… und Konservierungsbedarf
In vielen Fällen können präventive und konservatorische Massnahmen verhindern, dass in Zukunft Schäden entstehen. Dazu gehört etwa die Reinigung der Objekte oder die Umverpackung in alterungsbeständige massgefertigte Archivschachteln. Dank der grosszügigen Unterstützung der Familienstiftung Hirzel arbeitet die ZB das Familienarchiv Hirzel seit Ende 2020 restauratorisch und konservatorisch systematisch auf. Zudem wird eine Auswahl der restaurierten Dokumente auf der Plattform e-manuscripta digital zur Verfügung gestellt.
Blick über die Schulter
In den nächsten Monaten werden wir Ihnen einen Blick über die Schultern des Restaurierungsteams erlauben, ausgewählte Objekte vorstellen und verschiedene Projektbeteiligte zu Wort kommen lassen. Interessiert? Dann folgen Sie dem Hashtag #RestaurierungHirzel.
Chefbibliothekar Spezialsammlungen |
Eine Dekade e-manuscripta.ch. Jubiläumsanlass und Visual Library-Anwendertreffen in der ZB
20. April 2023
Am 13. März 2023 jährte sich die Aufschaltung von e-manuscripta.ch, der Plattform für digitalisierte handschriftliche Quellen aus Schweizer Bibliotheken und Archiven, zum zehnten Mal. Das sollte gebührend gefeiert werden.
Der Anlass bot eine gute Gelegenheit, als Gastgeberin für das seit mehreren Jahren regelmässig stattfindende Anwendertreffen von Visual Library (VL), der Software, auf der Plattformen wie e-manuscripta.ch oder auch e-rara.ch basieren, aufzutreten. So lud die ZB als eine der vier Partnerinstitutionen der Plattform und gleichzeitig Sitz der Geschäftsstelle auf den 13. und 14. März in ihre Räume ein.
70 Teilnehmende aus dem D-A-CH-Raum
An diesen Anwendertreffen kommen jeweils Vertretungen aus Institutionen und Organisationen zusammen, die mit der Software Visual Library von Semantics/Walter Nagel arbeiten, um sich über die aktuellen Projekte und Weiterentwicklungen auszutauschen.
Nach dreijährigem pandemiebedingtem Unterbruch war die Motivation besonders gross, endlich wieder in direkten Begegnungen den Austausch zu pflegen. Da nahmen um die 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Österreich gerne die Anfahrt nach Zürich in Angriff. Auch aus den verschiedenen inländischen Partnerinstitutionen nahmen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter die Gelegenheit für eine Teilnahme in näherer Umgebung wahr, während die Schweizer Delegation in anderen Jahren normalerweise aus der Leiterin der Geschäftsstelle von e-manuscripta.ch und dem Verantwortlichen für die technische Infrastruktur an der ETH-Bibliothek besteht.
VL als Repositoriumslösung und im Einsatz für Retrodigitalisierungsprojekte
Die vorgestellten Projekte (das genaue Programm findet sich hier) umfassten eine grosse thematische Bandbreite und zeigten verschiedene mögliche Einsatzbereiche oder zusätzliche Funktionen der VL auf, welche vielleicht auch bei den Schweizer Plattformen gelegentlich zur Verwendung kommen könnten. Bei zwei Präsentationen ging es um Repositorien, wobei es sich einerseits um eines für elektronische Pflichtexemplare und beim andern um eine Ablage von Open Access-Veröffentlichungen handelt. Ziel ist jeweils ein hoher Automatisierungsgrad der Abläufe aber auch die Vereinheitlichung der Datenformate.
Im nächsten Themenblock kriegten wir einen Einblick in ein Crowdsourcing-Projekt, bei welchem es um die Erschliessung von Theaterzetteln ging, die Details zu einzelnen Aufführungen enthielten wie etwa dem Stücktitel und den beteiligten Personen. Wie sich die Volltexte von Zeitungen weiterbearbeiten und anreichern lassen durch Lokalisierung von Personen und Orten sowie Verknüpfung mit deren Einträgen in der Normdatei mittels Named Entity Recognition, wurde uns in der zweiten Präsentation vorgeführt.
VL als Tool für Sammlungspräsentation
Aus dem Museumsbereich wurde ein Projekt des Wiener Museums für Moderne Kunst präsentiert, das noch ganz am Anfang steht. Es ist vorgesehen, dass mit Hilfe eines Crowdsourcing-Tools während museumspädagogischen Veranstaltungen die Kinder und Jugendlichen beschreiben, was sie auf den gezeigten Bildern sehen. Ziel ist, möglichst unvoreingenommene Beobachtungen mit allgemein verständlichen Begriffen zu erhalten.
In einem besonders gross angelegten Frankfurter Projekt wird eine dezentral aufbewahrte Sammlung auf einer gemeinsamen Präsentationsoberfläche zusammengefügt. Darunter sind mehrere Nachlässe, die in separaten Datenbanken mit ganz unterschiedlichen Metadatenformaten erschlossen worden sind. Auch Editionen von Tagebüchern im TEI-Format sind anzutreffen, die nun für eine Präsentation neben der jeweiligen Abbildung aufzubereiten sind.
IIIF in e-manuscripta.ch
Die Präsentationen vom Dienstag drehten sich um grosse Verbundsysteme in Österreich und der Schweiz, bei welchen eine zentrale Infrastruktur erarbeitet worden ist und auch persistente Identifier sowie die Langzeitarchivierung einen Teil des Angebots ausmachen.
Der Reigen der Vorträge nahm ihren Abschluss mit einem Abstecher in die Welt des International Image Interoperability Frameworks IIIF und der Präsentation der bei e-manuscripta.ch integrierten Möglichkeit, den ausgewählten Titel mit einem einzigen Mausklick in den ZB-Viewer zu laden, wobei alle weiteren Titel ebenfalls im gleichen Tab gesammelt werden können.
Kontinuierlicher Projektaustausch erwünscht
Zum Abschluss der Tagung wurde in einer Diskussion über weitere Austauschmöglichkeiten ganz deutlich, wie gross das Interesse ist, zu den vorgestellten und auch zukünftig anstehenden Projekten regelmässig auf dem Laufenden zu bleiben. Da wird es vom Austausch von Mailadressen über Projektlisten bis hin zu regelmässigen Videokonferenzen verschiedene Initiativen geben, die es ermöglichen sollen, möglichst frühzeitig von ähnlichen Vorhaben Kenntnis zu erhalten und auch gemeinsam nach optimalen Lösungen bei auftauchenden Schwierigkeiten zu suchen.
Festvortrag zu K.I. in der Handschriftenerschliessung
Der Montagabend stand ganz im Zeichen des 10-jährigen Jubiläums. Der Festvortrag fand in einem grösseren Hörsaal der Universität Zürich statt und wurde gehalten von Prof. Dr. Malte Rehbein von der Universität Passau. Unter dem Titel «Auf dem Weg zu Big Data? Handschriftenerschliessung zwischen Fachwissen, Citizen Science und K.I.» spannte er den Bogen von der Steuerung der Wahrnehmung von Quellenmaterial mittels besserer Erschliessungstiefe bis zur Rolle der Technik als handelnder Akteurin und der Frage, wie weit bereits die Infrastrukturanbietenden wissenschaftliche Daten produzieren.
Leiterin Geschäftsstelle e-manuscripta.ch |
Monster, Pol und Taprobana – entdecken und verorten
16.02.2023
Wir laden Interessierte zur Expedition durch eine Auswahl der ältesten und schönsten Atlanten der ZB ein. Erkunden Sie die Welt auf über 2900 Landkarten des 15.-17. Jahrhunderts und forschen Sie mit, indem Sie diese online geografisch verorten.
Restauriert, digitalisiert und erschlossen
Aus den Tausenden von Atlanten der Abteilung Karten und Panoramen der ZB wurde eine repräsentative Auswahl der prachtvollsten Exemplare zusammengestellt, um sie zu digitalisieren und der Öffentlichkeit kostenlos auf e-rara zur Verfügung zu stellen.
Vorgängig reinigte und sicherte die Bestandserhaltung der ZB die kostbaren Bücher. Zum Teil waren auch aufwändige Restaurierungsarbeiten an den Objekten erforderlich, bevor sie gescannt werden konnten.
Nach diesen Arbeiten wurden die Atlanten im Verlauf des Jahres 2022 bis auf Ebene der einzelnen Karte erschlossen. Auf diese Weise ist es jetzt Forschenden und allen anderen schneller möglich, auf e-rara eine einzelne Karte aus den Atlanten zu finden. Diese kann darauf heruntergeladen oder in einem IIIF-Viewer mit anderen Ressourcen verglichen werden.
«Prachtsatlanten – alte Landkarten georeferenzieren»
Auf der erwähnten Erschliessungsarbeit basiert letztlich auch das aktuelle Citizen Science-Projekt zu den Prachtsatlanten: Interessierte untersuchen und verorten online Landkarten auf intuitive Weise, in dem sie auf einer alten und einer neuen Karte identische geographische Objekte identifizieren und diese markieren.
Die Karten werden darauf geometrisch «zurechtgerückt» und damit leichter les- und vergleichbar gemacht.
Bisweilen trifft man bei der Georeferenzierung auf herausfordernde und spannende Knacknüsse. Zu entdecken gibt es auf der Forschungsreise zudem Rätselhaftes und Erstaunliches.
Phantastische Inseln
Überraschend dürften ebenso imaginäre Inseln wie «Frislant» und die legendären Inseln «S. Brandain» und «Brasil» sein. Solche Phantominseln hielten sich mitunter nachhaltig auf alten Karten, wie das angeblich westlich von Irland gelegene paradiesgleiche «Brasil» zeigt: Zum ersten Mal im 14. Jahrhundert auf Dulcerts Seekarte erscheinend aber bereits in Jahrhunderte älterer Legenden fassbar, ist es noch bis ins 19. Jahrhundert auf kartographischen Produkten zu finden.
Die grösste der drei, «Frislant», verdankt ihre Existenz einzig der Vorstellungskraft und Absicht von Nicolo Zeno (1515-1565) aus Venedig. Zeno verfasste einen frei erfundenen Reisebericht, mit dem er zu beweisen hoffte, dass seine Ahnen und nicht etwa Kolumbus Amerika zuerst erreicht hätten. Das Eiland ist noch auf Karten des 18. Jahrhunderts zu finden.
Wandernde Insel und verkehrtes «N»
Neben den phantastischen Inseln gibt es auch solche, die auf Karten wandern. So wurde der geographische Name «Taprobana» im Lauf der Zeit für verschiedene Eilande verwendet. Bereits Autoren der Antike kannten eine Insel von angeblich enormer Grösse vor der indischen Küste, die heute Sri Lanka heisst.
Karten von Taprobana finden sich auch in den beiden ältesten Ressourcen des Projekts, den Ptolemäus-Ausgaben der Jahre 1482 und 1486. Die Holzschnittkarten sind farbenprächtig koloriert. Sie unterscheiden sich in der Farbgebung und der ebenfalls von Hand ausgeführten Schattierung der Gebirgsdarstellung.
Ein Vergleich der Karten der Insel zeigt, dass für die jüngere Ausgabe von 1486 der Druckstock der älteren wiederverwendet wurde. Zu erkennen ist dies neben den identischen Massen des Kartenfelds und -inhalts auch am auffälligen seitenverkehrten «N» im Namen der Insel. Dieses ist charakteristisch für Johannes Schnitzer von Armsheim, der sich in der Ausgabe von 1486 auf der Karte zur Oikumene – der bewohnbaren Welt – als Formschneider zu erkennen gab: «Insculptum est per Johanne Schnitzer de Armßheim». Es ist das erste Mal, dass sich ein solcher auf einer im Druck erschienen Karte verewigt.
Der Humanist und Kosmograph Sebastian Münster (1488-1552) gab einige Jahrzehnte später Sumatra als Taprobana wieder. In seiner Cosmographia von 1540 heisst es:«[…] Taprobanam insulam hodie vocant Sumatram». Diesen Irrtum wie auch die angeblich enormen Ausmasse der Insel korrigiert später der berühmte Geograph und Kartograph Gerhard Mercator (1512-1594).
Innovativer Kartograph und Nordpol
Gerhard Mercator (1512-1594) darf für das 16. Jahrhundert als der wichtigste Kartograph bezeichnet werden. 1595 erscheint posthum und unter Federführung seines Sohnes Rumold (1541-1599) der dritte Teil seines wegweisendem «Atlas, sive, Cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura»: Die darin enthaltenen Karten weisen eine einheitliche Erscheinung und ein ebensolches Koordinatensystem auf. Zudem sind sie überwiegend nordorientiert.
Für diese Art systematischer Zusammenstellung wird zudem das erste Mal die Bezeichnung «Atlas» verwendet.
Mercator ist im Atlas bildlich als Kartograph in Szene gesetzt, der zudem den magnetischen Nordpol bestimmte: Seine linke Hand ruht unmittelbar unter «America» auf dem Globus, der aus europäischem Verständnis «Neuen Welt». Die eine Spitze des Zirkels in seiner Rechten steckt im «Polus magnetis», dem magnetischen Nordpol, der von enormer Bedeutung für die Navigation ist.
Auf Mercators Karte besteht das Nordpolargebiet aus vier – aus heutiger Sicht imaginären – Inseln. Zwischen diesen fliessen Meeresströme auf einen «Polus Arcticus» zu, um in einem Wasserschlund zu verschwinden. Davon abgesetzt ist der «Polus magnetis» zu erkennen, auf den Mercator im Porträt die Zirkelspitze setzt.
Terra incognita
Im Schlepptau der europäischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert gerieten empirische Erfahrungen zunehmend in Widerstreit mit tradiertem Wissen. Beobachtungen, topografische Aufnahmen und Reiseberichte führten dazu, dass sich überlieferte Überzeugungen nicht mehr halten liessen. Es zeigt sich bisweilen eine spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Tradition und Innovation.
Im Strassburger Ptolemäus von 1513 findet sich zum einen ein alter Kartenteil, welcher auf den tradierten Aufzeichnungen von Claudius Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert basiert. Zum anderen wurde ein neuer Kartenteil hinzugefügt, der die «Tabulae novae» beinhaltet. In letztere flossen neue geografischen Erkenntnisse ein.
Seemonster und Riesenfische
Auf den Karten einiger Prachtsatlanten finden sich neben Schiffen in grosser Zahl auch ungeheuerliche Geschöpfe, die sich im Meer tummeln. Eine Einteilung in realexistierende Lebewesen in Abgrenzung zu legendären, phantastischen Seeungeheuern, die sich der Empirie entziehen, entspricht der heutigen Sichtweise.
Für zeitgenössische Betrachtende von Karten des Mittelalters und der Renaissance war diese Unterscheidung weniger klar. Monsterhaft konnte für Seefahrer auch ein grosser Wal erscheinen, zumal die damaligen Schiffe im Vergleich zu heutigen viel kleiner waren.
Das «Meerpfaerdt» dieser Karte findet sich neben anderen realexistierenden und mirakulösen Lebewesen in Conrad Gessners (1516-1565) wunderbarem «Fischbuoch : das ist ein kurtze, doch vollkommne Beschreybung aller Fischen so in dem Meer und süssen Wasseren, Seen, Flüssen oder anderen Bächen jr Wonung habend, sampt jrer waren Conterfactur.»
Das Projekt ist Teil des strategischen Schwerpunkts Citizen Science der Zentralbibliothek Zürich.
Mitarbeiter Abteilung Karten und Panoramen |
Visualisierungen sind Arbeit am Gedanken: Zur Komplexität von Daten-Visualisierungen in Wissenschaft, Kultur und Medien
05.01.2023
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ist Ihnen aber aufgefallen, dass Daten-Visualisierungen exakt mit dem übereinstimmen, was Autoren Ihnen erzählen? Dass Autorinnen Ihnen mit tausend Worten erklären, was Sie sehen (sollen)? Daten-Visualisierungen sind keinesfalls immer selbsterklärend. Visualisierungen sind also nicht nur Illustrationen: Sie stellen Daten dar, die in einer bestimmten Art angeordnet wurden.
Diese Anordnung benötigt eine Erklärung, weil Visualisierungen eine ganze Reihe von Überlegungen und Ressourcen in sich bündeln, die nicht immer sichtbar sind. In einem Workshop im Rahmen der Willy-Bretscher-Fellowships in der ZB zeigten sechs Personen aus Wissenschaft und Praxis, wie komplex Visualisierungen sind.
Visualisierungen als Arbeit am Gedanken
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass nicht nur «Arbeit an der Sprache Arbeit am Gedanken ist», sondern auch das Erstellen von Visualisierungen Arbeit am Gedanken ist. Visualisierungen sind oft nicht bloss eine Veranschaulichung von Daten, die bestimmte Anordnung von Daten ermöglicht darüber hinaus mehr und anderes sichtbar und damit erkennbar zu machen.
Gleichzeitig haben sich die Produktionsbedingungen von Visualisierungen im letzten Vierteljahrhundert radikal geändert: Es stehen mehr Daten (in maschinenlesbaren Formaten) zur Verfügung, und die Verarbeitungstechnologien sind vielfältiger und einfacher zu handhaben. Dies birgt die Gefahr, Visualisierungen als gegeben und als Kinderspiel zu betrachten. Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass mehr Daten mehr Kontext erfordern, um Visualisierungen zu verstehen, und dass Visualisierungen nicht nur vermitteln, sondern auch belehren und überzeugen wollen.
Visualisierungen stellen Konzepte der Sozial- und Wirtschaftspolitik dar
Claire-Lise Deblüe zeigte, wie die Sozialmuseen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit neuen Formen der Darstellung der sozialen Welt experimentierten, um sozialpolitische und wirtschaftliche «Tatsachen» und Konzepte für die Bevölkerung verständlich zu machen. Als Beispiel kann hier die Apparatur zum Finanzhaushalt der Eidgenossenschaft im Schweizerischen Sozialmuseum Zürich (1917-1941) dienen (Abbildung 1). Die Wahl einer Waage als Apparat zur Symbolisierung deutet darauf hin, dass der Grundsatz des Gleichgewichts der Finanzen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung spielen sollte. Das Beispiel zeigt, dass Visualisierungen einerseits eine Bildungsabsicht verfolgen und andererseits, dass Konzepte in Visualisierungen einfliessen.
Abbildung 1: Die Einnahmen und Ausgaben der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Apparat dargestellt. Im Schweizerischen Sozialmuseum Zürich (1917-1941), gegründet von Paul Pflüger, dem Gründer des Schweizerischen Sozialarchivs. Der Hauptzweck der Sozialmuseen war die gesellschaftspolitische Bildung der Menschen.
Visualisierungen sind Denkwerkzeuge
Die Finanzhaushalt-Apparatur des Sozialmuseums zeigt aber auch auf, dass Visualisierungen Werkzeuge sein können, mit denen operiert werden kann: So kann der Finanzhaushalt in der Abbildung 1 manuell verändert werden. Diesen Aspekt der Operationalität von Visualisierungen betonte Noah Bubenhofer. Anhand des geometrischen Beweisbildes in der bekannten Darstellung in Platons Menon zeigte Bubenhofer, dass mit Visualisierungen operiert werden kann, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Die Aufgabe, die Menon seinem Sklaven stellt, besteht darin die Seitenlängen eines Quadrates zu finden, das die doppelte Fläche eines ursprünglichen Quadrats hat.
Der erste Gedanke ist es die Seitenlängen des ursprünglichen Quadrates zu verdoppeln (Abbildung 2). Dies führt jedoch zu einer Fläche, die viermal so gross ist, wie die ursprüngliche Fläche. Der erste Gedanke führt zwar nicht unmittelbar zur richtigen Lösung, aber die neue Visualisierung mit vier Quadraten macht die richtige Lösung sichtbar. Um die ursprüngliche Fläche zu verdoppeln, müssen bloss die vier Diagonalen der neuen Quadrate aus dem ersten Lösungsschritt verbunden werden. Bubenhofer plädierte für ein systematischeres An- und Umordnen, um neue Perspektiven zu erhalten, die Gewohnheit der Nutzenden zu überlisten und die Traditionen eines Faches zu umgehen.
Abbildung 2: Die Verdoppelung des Quadrats in Platons Menon. Durch geschicktes operieren mit der ursprünglichen Visualisierung (dem Quadrat) kann die Frage nach der Verdoppelung der Fläche beantwortet werden.
Karten sind hybride Visualisierungen von Text, Bild und Zahl
Die Möglichkeiten der An- und Umordnungen sind zwar grundsätzlich nicht limitiert, jedoch bestimmt der «Zeitgeist», welche Möglichkeiten überhaupt in Betracht gezogen werden. In diesem Sinne betonte Daniel Ursprung, dass sich in Kartenvisualisierungen Technik, Macht und Ideologie, die allesamt zeitspezifisch sind, verdichten. So wurde der berühmte Liniennetzplan der London Underground von Charles Beck auf der Idee von elektrischen Schaltplänen entworfen. Vor Beck wurden die U-Bahnlinien topographisch «richtig» auf der Basis eines Stadtplans dargestellt. Becks neuer Liniennetzplan wurde zunächst abgelehnt, weil die relativen Entfernungen von einer Station zu den anderen nicht angezeigt wurden.
Die radikale Neuerung war, dass dank dem elektrischen Schaltplan alle Stationen mehr oder weniger gleichmässig verteilt waren. Beck fand, dass Passagiere sich nicht um geographische Genauigkeiten scherten, sondern einfach von einem Bahnhof zu nächsten gelangen wollten. Nicht die Distanz der Stationen untereinander war entscheidend, sondern nur die räumliche Beziehung. Letztlich bestimmen also auch die Sehgewohnheiten, die Ästhetik und die technischen Möglichkeiten das Denk- und Machbare. Schliesslich wies Ursprung darauf hin, dass die grundlegenden Gestaltungsprinzipien oft seit langem bekannt seien, die Umsetzung in der konkreten Umgebung und in der Kombination verschiedener Stilmittel aber manchmal neu sein können, wie das Beispiel der Londoner U-Bahn zeigt.
Anfertigung der Inhalte durch ihre Visualisierungen
Viele Daten bedeuten in erster Linie viel «Rauschen», aus dem durch Operieren und Visualisieren ein konkretes «Signal», d.h. eine für eine bestimmte Frage relevante Aussage extrahiert werden kann. Peter Moser zeigte exemplarisch anhand der Entwicklung der Stimmbeteiligung an Volksabstimmungen im Kanton Zürich seit 1945 auf, wie man Visualisierungen als exploratives Werkzeug verwenden kann, um zu Erklärungen zu gelangen. In den Daten ist zunächst eine konstante Stimmbeteiligung seit den 1970er Jahren zu erkennen, aber auch eine starke Abnahme zwischen 1945 und 1970 (Abbildung 3). Hier zeigt sich, dass viele Daten auch viel Kontext zur Erklärung benötigen. Bevor sich die visuelle Entwicklung der Stimmbeteiligung erklären lässt, müssen in diesem Beispiel u.a. die mehrfache Erweiterung der Stimmbürgerschaft (Frauenstimmrecht, Stimm- und Wahlrechtsaltersenkung von 20 auf 18 Jahre, Stimmrecht für Auslandschweizerinnen und -schweizer), die Veränderung der Modalitäten der Abstimmungsteilnahme (formelle Stimmpflicht bis 1984, briefliche Abstimmung) und auch die Art und die Anzahl der Vorlagen (Verdreifachung der Bundesvorlagen seit den 1970er Jahren) berücksichtigt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bereits seit den 1960er Jahren die Stimmpflicht immer weniger durchgesetzt wurde. Ein deutlicher Rückgang um 10 Prozentpunkte ist bei der Einführung des Frauenwahlrechts zu verzeichnen (Abbildung 4). Dies lag zum einen an der deutlich geringeren Wahlbeteiligung der neu hinzugekommenen Frauen, zum anderen aber auch daran, dass die Bestrafung der Wahl- und Stimmenthaltung faktisch abgeschafft wurde. Moser plädierte für ein pragmatisches Vorgehen, warnte aber auch vor voreiligen Schlüssen, da Visualisierungen letztlich auch «falsche» Aussagen generieren können.
Abbildung 3: Die Stimmbeteiligung im Kanton Zürich 1945–2022
Abbildung 4: Die Stimmbeteiligung und die Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Zürich, 1945–2022
Prozesse generativer Visualisierung
Das Finden und Gestalten eines «Signals» in den Daten kann mit den heutigen Computertechnologien auch losgelöst von der Kontrolle der Forscherin erfolgen. Max Frischknecht betonte diesen Aspekt, in dem er den digitalen Prozess der generativen Gestaltung von Visualisierungen in den Fokus rückte. Die Generative Gestaltung ist hierbei eine Entwurfsmethode, die insbesondere in der Kunst und Architektur sowie im Kommunikations- und Produktdesign verwendet wird. Die Software entwirft selbstständig eine Reihe von Visualisierungen anhand der Anforderungen, die der Gestalter festgelegt hat (z. B. Algorithmus, Quellcode, Eingabewerte, siehe Abbildung 5). Es gibt dabei drei Möglichkeiten der Aufgabenteilung zwischen Gestalterin und Computer: Die Gestalterin kreiert und der Computer unterstützt (digital-manuelle Visualisierung), der Gestalter konzeptualisiert und kreiert und der Computer führt aus (digital-generative Visualisierung), oder die Gestalterin modelliert und der Computer kreiert (digital-autonome Visualisierung).
Frischknecht betonte ähnlich wie Moser und Bubenhofer, dass mit dem Computer grafische Bilder in unlimitierter Weise überlagert, nebeneinandergestellt und transponiert werden können und dass Visualisierungen dadurch nicht mehr nur Illustrationen darstellen, sondern zum Forschungsinstrument werden. Allerdings ist zu bedenken, dass die Gestalterin nicht unbedingt ein Mensch sein muss, sondern auch eine künstliche Intelligenz diese Rolle übernehmen könnte. Hier besteht die Gefahr, dass die Betrachter der Visualisierung nicht mehr eruieren können, worauf sie beruht.
Abbildung 5: Der Prozess der generativen Gestaltung
Die Bündelung von Ressourcen
Daten-Visualisierungen brauchen nicht nur Kontext, sondern auch spezifisches und vielfältiges Wissen, um überhaupt dargestellt werden zu können. Kaspar Staub gab einen Einblick in die Entwicklung eines Daten- und Visualisierungshub zu vergangenen Pandemien in der Schweiz. Er zeigte auf, wie viele Ressourcen gebündelt werden müssen, um sinnvolle Geschichten aus Daten zu gewinnen: Finanzielle Mittel sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen der Universität Zürich (Historisches Seminar, Institut für Geographie, Institut für Evolutionäre Medizin) und der Schweizer Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Institut für Angewandte Medienwissenschaften). Dazu kamen für die technische Implementierung die Verbindung von IT, Data Science and Data Storytelling durch eine Programmiererin und eine Interfacegestalterin, die Nutzung von Konzepten und Theorien der Visualisierung und des Storytellings, aber auch der umsichtige Umgang mit historischen Quellen. Staub betonte, dass historische Daten nur durch die Zusammenarbeit von verschiedenen Personen aus unterschiedlichen Fachbereichen mit verschiedenen Kompetenzen angemessen erforscht und dargestellt werden können.
ZB Willy-Bretscher-Fellow 2022/2023 |