Aberglaube in aufgeklärten Zeiten

Das Titelblatt und eine Doppelseite der Gemeindechronik Glattfelden 1918. Der Chronist widmet dem Thema Aberglaube mehrere Seiten. (Bild: Gemeindechronik Glattfelden 1918 / ZB Zürich)

Abergläubisch sind immer die anderen. Vor allem die anderen aus vergangenen Zeiten. Selbst erlauben wir uns Aberglaube höchstens im Kleinen und mit einem Augenzwinkern. Aber ganz darauf verzichten? Lieber nicht – sicher ist sicher und schaden können die Glücksbringer und das Daumendrücken ja nicht.

Als Kulturtechnik ist der Aberglaube eine Art, mit der Welt zurechtzukommen, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder dem Glauben anerkannter Religionen beruht. Er bietet Orientierung und springt in die Bresche, wenn nichts anderes hilft, sodass wir uns etwas weniger ohnmächtig fühlen.

Seit der Aufklärung ist die Welt entzaubert und der Aberglaube ohne Augenzwinkern Geschichte. Würde man meinen. Publikationen unterschiedlicher Art erzählen jedoch etwas anderes. Zum Beispiel die Zürcher Gemeindechroniken, deren Autoren vom Aberglauben im Kanton Zürich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts berichten.

«Dieser Aberglaube ist nicht tot, wie man meinen könnte, er ist nur mit Bildungsmeinungen überschüttet, aber darunter regt er sich noch recht lebendig & offenbart sich in Taten.»

Gemeindechronik Meilen 1918

Übernatürliche Gestalten

Allerlei übernatürliche Wesen streifen durch den Kanton Zürich von damals: Gespenster unterschiedlicher Art, der Teufel höchstpersönlich und Menschen mit magischen Fähigkeiten.

In Glattfelden etwa «bannen» ein Bauer und ein Knecht sich gegenseitig, sodass die Sense des einen schlechter schneidet und das Fuhrwerk des anderen stehenbleibt. In Rafz werden Frauen noch vereinzelt der Hexerei verdächtigt, wenn ein Kind erkrankt oder im Stall ein Unglück geschieht. Und in Brütten hinterlässt der Beelzebub hier und dort «Teufelsdreck» in den Ställen.

Andere Gestalten aus der Welt des Aberglaubens spielen in den Zürcher Gemeindechroniken aber eine wichtigere Rolle: Tote, die nicht zur Ruhe kommen. Diese Wiedergänger gehen um, weil sie Selbstmord oder ein Unrecht begangen haben, und sie versetzen die Menschen – in Glattfelden gar einen Esel – in Angst und Schrecken. Manche poltern in Häusern und Ställen, andere streifen als «fürige» oder «brünnige Mannen» oder «Zeusler» durch Feld und Wald.

«Das Volk sagt: das sind Zeusler, d.h. Geister Verstorbener, die zu Lebzeiten an jener Stelle irgend einen Frevel begangen haben, z.B. Marchen versetzt, Land gestohlen, Bäume geschädigt etc. Zur Strafe für ihre Missetaten müssen sie im Feuer wieder an der betreffenden Stelle erscheinen.»

Gemeindechronik Fällanden 1902

Schutz von Haus und Hof

Um übernatürliche Gestalten loszuwerden, finden die Menschen unterschiedliche Mittel und Wege. Viele vertrauen auf die Zauberkraft der Kapuzinermönche, die zum Beispiel einen bösen Geist an einer Wand festnageln oder einen untoten Selbstmörder in den Weiher «bannen», in dem er sich ertränkt hat.

Damit das gar nicht erst nötig ist, treffen die Zürcherinnen und Zürcher von damals diverse Massnahmen, um «Ungfell» von Haus und Hof fernzuhalten. Einige besorgen sich schwarze Katzen oder schwarze Ziegen, andere stellen vor der Zimmertür einen Besen bereit, um sich notfalls zur Wehr setzen zu können. In einen Meilemer Stall wird noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine lebendige Kröte eingemauert, die Unglück verhindern soll.

Eine andere Strategie ist aufwendiger: Auf dem abgelegenen Birchhof bei Brütten finden sich um die Jahrhundertwende kleine, zugepfropfte Löcher in den Balken des Stalls. Darin versorgt sind Zauberformeln, notiert auf Papierzettel. Dasselbe begegnet dem Historiker Emil Stauber noch in den 1920er-Jahren in der Gemeinde Stadel im Zürcher Unterland.

Krankheit und Tod – medizinischer Aberglaube und Omen

Nicht nur übernatürliche Gestalten fürchten die Zürcherinnen und Zürcher im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auch Krankheit, Leid und Tod stehen weit oben auf der Liste der angsteinflössenden Dinge.

In einer Zeit, in der sich insbesondere die Landbevölkerung bei gesundheitlichen Problemen oft selbst hilft und helfen muss, spielt der medizinische Aberglaube eine wichtige Rolle. Heilung oder zumindest Linderung suchend, tragen die Menschen «Sympathiemittel» mit sich herum, etwa Zähne und Sargnägel, die gegen Zahn- oder Ohrenschmerzen helfen sollen.

Der medizinische Aberglaube kennt unzählige weitere Mittel und Praktiken. Wie fantasievoll und aufwendig sie teils sind, zeigt ein Bericht aus dem Zürcher Oberland:

«Mein Knäblein hatte ein ‹Brüchli›. Nun schnitt ich ihm erst die Nägel an der rechten Hand ab und entsprechend am linken Fuss, dann an der linken Hand und am rechten Fuss – übers Kreuz! – die abgeschnittenen Stücke sammelte ich und steckte sie in einen Gänsekiel, ging nachts um 12 Uhr aus und suchte einen Baum auf, dort bohrte ich den Kiel unter Anrufung der 3 höchsten Namen hinein. Es ging langsam, aber nach Vorschrift war ich vor Sonnenaufgang fertig [...].»

Gemeindechronik Russikon 1917

Der Tod kommt in der Welt des Aberglaubens oft nicht unbemerkt: Omen kündigen ihn an. Blasse Pflanzen im Garten, Lücken im Trauerzug, der Stundenschlag fällt in das Glockengeläut einer Beerdigung, Raben fliegen schreiend um ein Haus – die Vorboten des Todes sind vielfältig. Sie nehmen ihm etwas von seiner Unberechenbarkeit.

Aberglaube im Jahreslauf

Der Monat März im «Zürcherischen Volks-Kalender» für das Jahr 1879. (Bild: ZB Zürich)

Neben Omen lassen auch spezielle Kalendertage auf die Zukunft schliessen. An gewissen Tagen besteht zudem die Möglichkeit, das Schicksal auf die eine oder andere Weise positiv zu beeinflussen. Astrologisch Bedeutsames wie den Mondkalender und die Sternzeichen kennen wir heute noch, anderer Kalenderaberglaube ist in Vergessenheit geraten.

Die Zürcher Gemeindechronisten berichten von diversen Tagen, die mit einem bestimmten Aberglauben verbunden sind, einige sogar mit mehreren.

Karfreitag

Zum Karfreitag findet sich in den Gemeindechroniken besonders viel Abergläubisches:

  • Wasser, das man an einem Karfreitag-Morgen am Brunnen holt, während die Kirche 9 Uhr schlägt, hilft gegen alles.
  • Essig, der am Karfreitag von der Essigmutter entfernt wird, hält am besten.
  • Ein Ring, am Karfreitag zwischen 0 und 1 Uhr aus sieben gebrauchten Sargnägeln geschmiedet und am Finger getragen, schützt vor und hilft gegen schlimme Krankheiten.

Eier, an einem Karfreitag gelegt, sollen gar mehrere spezielle Eigenschaften haben. Karfreitagseier …

  • … heilen alle Krankheiten.
  • … faulen nicht.
  • … lassen sich nicht färben.
  • … schützen Gebäude vor Blitzschlag und Bränden.

Ein Mädchen aus der Gegend von Knonau mit einem Huhn und ganz vielen Eiern, um 1814. (Bild: Franz Niklaus König / ZB Zürich)

10'000-Ritter-Tag

Der Tag der 10'000 Ritter am 22. Juni ist den 10'000 christlichen Märtyrern gewidmet, die gemäss einer Legende im 2. Jahrhundert unter dem römischen Kaiser Hadrian auf dem Berg Ararat gekreuzigt wurden. Weil «an diesem Tag jemand im See ertrinken muss», wird in Meilen vom Baden abgeraten.

Badende Kinder auf einer Radierung von Johann Rudolf Schellenberg, 1796. (Bild: ZB Zürich)

Hundstage

Während den Hundstagen vom 23. Juli bis am 23. August sind Krankheiten nicht heilbar. Ist das Wetter während diesen Sommertagen gut, wird das Jahr entweder generell oder hinsichtlich der Gesundheit ein gutes. Schlechtes Wetter bedeutet hingegen, dass schlechte Zeiten bevorstehen.

Auch in der Sommerhitze der Hundstage wird vom Baden abgeraten, man fürchtet Krankheiten.

Badende auf einer Seite aus dem «Zürcherischen Volks-Kalender» für das Jahr 1879. (Bild: ZB Zürich)

Andreastag

In der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember können junge Frauen auf unterschiedliche Weise herausfinden, wer ihr Lebensgefährte oder zumindest ihr nächster Verehrer sein wird:

  • Sich rücklings ins Bett legen oder um Mitternacht heimlich rückwärts das Wohnzimmer wischen: Der Zukünftige erscheint im Traum. 
  • Um Mitternacht rückwärts das Wohnzimmer wischen und zusätzlich rückwärts den Kehricht hinaustragen: Beim Hereinkommen erscheint der Zukünftige am Tisch sitzend.
  • Um Mitternacht in den Brunnentrog schauen: Das Gesicht des nächsten Verehrers erscheint.

Ein Liebespaar am Dorfbrunnen. Ob die junge Frau ihren Geliebten während der Andreasnacht wohl im Brunnen gesehen hat? Das Bild stammt von Johann Salomon Hegi, um 1840. (Bild: ZB Zürich)

Weihnachten

Rund um Weihnachten können Bauern und Bäuerinnen ihr Schicksal besonders gut beeinflussen:

  • Wer am Samstag vor Weihnachten um 16 Uhr Strohweiden um die Stämme seiner Obstbäume bindet, erntet im nächsten Jahr besonders viele Früchte. Manche halten auch die Neujahrsnacht für den richtigen Zeitpunkt.
  • Wer in der Heiligen Nacht um Mitternacht sein Vieh tränkt, hat in Schöfflisdorf «das ganze Jahr hindurch Segen im Stall.»
  • Wer am Weihnachtsmorgen sein Vieh als erster am gemeinsamen Brunnen tränkt, hat im folgenden Jahr die schönsten Kühe oder einfach Glück im Stall. 

Will jemand sein Vieh sprechen hören, so besteht am letzten Tag vor Weihnachten die Möglichkeit dazu: Um Mitternacht «rede das Vieh mit einander», weiss der Chronist von Brütten.

In der Zeit um Weihnachten geborenen Kindern wird zudem die Fähigkeit nachgesagt, übernatürliche Dinge zu sehen.

Kühe vor dem Haus «Drei Tannen» an der heutigen Kurfirstenstrasse 22 in Zürich-Enge, wohl 1890. (Bild: ZB Zürich)

Lostage

Viele nutzen die sechs letzten und die sechs ersten Tage des Jahres als sogenannte Lostage für das Wetter des kommenden Jahres: Wie das Wetter am 26. Dezember ist, so wird es im Januar. Dasselbe gilt für den 27. Dezember und den Februar, den 28. Dezember und den März bis hin zum 6. Januar und dem Monat Dezember.

Die Beobachtungen während der Lostage werden als Wettervorhersage für das kommende Jahr notiert, in der Gemeinde Wald wie auf dem Bild: Schraffur=Regen, Punkte=Schnee, leer=hell (wohl: nicht bewölkt, klar), schattiert=bewölkt. In den halbierten Kreisen sind das Vormittags- und das Nachmittagswetter notiert, ein viergeteilter Kreis bildet vier Zeitfenster ab: Vormittag–9 Uhr, 9–12 Uhr, 12–16 Uhr, 16 Uhr–Nacht.

Wetternotizen zu den Lostagen, erklärt in der Gemeindechronik Wald 1902. (Bild: ZB Zürich)

Silvester & Neujahr

Während der Neujahrsnacht können Bauern und Bäuerinnen in Rafz ihr nächstes Jahr positiv beeinflussen, indem sie «den Bäumen helfen»: Wenn sie zwischen dem Glockenläuten von 11 bis halb 12 und dem Läuten von 12 bis halb 1 Stroh oder eine «Garbenweide» um ihre Bäume wickeln, tragen diese im nächsten Jahr viele Früchte. Andernorts umwickelt man die Bäume bereits vor Weihnachten.

Am Neujahrstag ist es wichtig, dass die Männer vor den Frauen ein gutes neues Jahr wünschen. In Wald «gratulieren» am besten drei Männer, bevor eine Frau es tut. Macht eine Frau den Anfang, so bringt es Unglück. Und wer an Neujahr das Wohnzimmer fegt, fegt das Glück hinaus.

An Neujahr lässt diese Frau den Besen sicherheitshalber besser im Putzschrank. Das Bild stammt wohl aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Bild: David Hess / ZB Zürich)

Aberglaube heute

Auch heute noch verschicken wir Karten, auf denen Glücksbringer abgebildet sind. Diese Zürcher Ansichtskarte, wohl um 1900 gedruckt, zeigt gleich mehrere: Ein Hufeisen und vierblättrige Kleeblätter. (Bild: ZB Zürich)

Die hier geschilderten Beispiele gelebten Aberglaubens zeigen nur einen Ausschnitt der verzauberten Welt der Gemeindechroniken. Die Chroniken wiederum dokumentieren nur einen Teil der abergläubischen Welt, von der sie erzählen. Die Autoren sind vorwiegend Geistliche, manche auch Lehrer – die gebildeten Männer der jeweiligen Gemeinde. Was hätten wohl Bäuerinnen und Gastwirte über den Aberglauben im Kanton Zürich berichtet?

So oder so: Die Welt von damals ist nicht mehr die unsere. Aus heutiger Sicht mögen die abergläubischen Regeln, Handlungen und Voraussagen etwas naiv erscheinen, doch diese Sicht wird ihnen nicht gerecht. Als Kulturtechnik, die in schwierigen Situationen handlungsfähig macht, sind sie sogar ziemlich clever.

Wo stehen wir heute bezüglich Aberglaube? Offizielle Zahlen zum Kanton Zürich gibt es nicht – kein Wunder, Aberglaube ist schwer messbar. Dass es ihn immer noch gibt, ist aber unbestritten: Horoskope, Manifestieren, Daumendrücken, Traumfänger, die Kraft der Steine – der Aberglaube geistert mit vielen Gesichtern durch die Lebenswelten unserer pluralistischen Gesellschaft.

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Stefanie Ehrler, Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin Abteilung Turicensia
März 2025


Header-Bild: Aus der Gemeindechronik Glattfelden 1918

 

Dank

Die Autorin dankt René Schurte, Theologe und Leiter Fachreferate Kultur- und Geschichtswissenschaften in der Zentralbibliothek Zürich, für den Austausch über Religion, Volksglaube und Bauernregeln.