Zürcher Textilgeschichte bis 1800

Über Jahrhunderte wird in Zürich nicht nur Wolle verarbeitet, sondern auch Flachs und andere selbst angebaute Pflanzenfasern. Die Baumwollverarbeitung, aus der Levante eingeführt, ist seit 1360 in der deutschen Gewerbelandschaft nachweisbar. Sie fasst im 15. Jahrhundert in Zürich Fuss, weil kein Zwang zum Zunftbeitritt besteht: Als unreguliertes Handwerk sind das Baumwoll- und Leinengewerbe damals für alle zugänglich. Hergestellt werden einfache Produkte wie Baumwolltücher, die wenige Arbeitsschritte erfordern.

Ab 1555 bringen protestantische Flüchtlinge aus Locarno neue Impulse für das Zürcher Baumwollgewerbe, wie zusätzliche Absatzkanäle und neue Produktions- und Organisationsformen. Das löst von 1590 bis 1620 einen Wachstumsschub aus.

Die Einführung des Spinnrades, die Ausweitung der Produktpalette sowie die Ausbreitung der Baumwollverarbeitung von der Stadt auf das Oberland führen zu einer zweiten Wachstumsperiode (1660–1690). Gegen Ende der 1780er-Jahre treibt der Import von billigem englischem Maschinengarn die Mechanisierung der Baumwollspinnerei voran.

Das Oberland als Eckpfeiler der Industrialisierung

Im späten 18. Jahrhundert treibt die Textilindustrie die Industrialisierung voran. Stadtzürcher Kaufleute importieren Seide und Baumwolle, die ländliche Heimarbeiterinnen und -arbeiter zu begehrten Endprodukten verarbeiten – ein System, das als Verlagssystem bekannt ist.

Mit dem Aufkommen der industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert, als das Fabrik- das Verlagssystem ersetzt, entstehen im Zürcher Oberland erste mechanische Spinnereien. Die napoleonische Kontinentalsperre von 1814, die den Import von Garn aus England verhindert, begünstigt diese Entwicklung. Die Mechanisierung macht viele Handspinnerinnen und Handspinner arbeitslos, was den Fabrikanten gut ausgebildete und kostengünstige Arbeitskräfte beschert. Zahlreichen Flussläufe wie die Töss und die Aa sichern eine effiziente Energieversorgung.

Soziopolitische Umbrüche wie der Ustertag und der Usterbrand führen zur Aufhebung der beruflichen und gewerblichen Schranken des Ancien Régime. Sie ebnen den Weg zur wirtschaftlichen Prosperität ebenfalls und machen Zürich damals zum führenden Industriekanton der Schweiz.

Von Innovatoren und Unternehmern

Drei Unternehmer prägen den Industrialisierungsschub im Zürcher Oberland:

Heinrich Kunz (1793–1859), auch «Spinner-König» genannt, ist zu seiner Zeit einer der grössten Baumwollspinnerei-Besitzer Europas. Nach Lehrjahren im Elsass – aus jener Zeit stammen auch die ersten Briefe an seine Familie – beginnt er im Zürcher Oberland Spinnereien aufzubauen. Damit hat er grossen Erfolg. Als Fabrikherr ist er hart und rücksichtslos, auch seinen Arbeiterinnen und Arbeitern gegenüber – ein Vertreter des Manchester-Liberalismus eben.

Caspar Honegger (1804–1883) ist Innovator und Webstuhlkonstrukteur. Er besitzt ein «Geschick für Maschinen» und wird mit nur 17 Jahren technischer Leiter der kleinen Spinnerei seines Vaters. Die verwendeten mechanischen Webstühle verbessert er zum berühmten Honegger-Webstuhl und er ist ein schweizweit bekannter Fabrikant aus der Frühzeit der Textilindustrie.

Adolf Guyer-Zeller (1839–1899) bereist weltweit baumwollverarbeitende und -produzierende Länder. Nebst der väterlichen Baumwollspinnerei in Neuthal, welche er 1874 übernimmt, gründet er ein Textilhandelsgeschäft in Zürich.

Das Schiffchen fliegt … Weber und Sticker im Zürcher Oberland

Mit der immer grösser werdenden Menge an Rohbaumwolle, die es zu verarbeiten gilt, setzt sich die Baumwollspinnerei im Zürcher Oberland des 18. Jahrhunderts als dominierendes Gewerbe durch. Gebietsweise verbreitet sich auch die Baumwollweberei, so dass noch vor der Französischen Revolution eine gewichtige Heimindustrie entsteht.

Die Heimarbeiterinnen und -arbeiter lösen sich aus der rein bäuerlichen Lebensweise und verdienen ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise zu Hause mit Spinnen und Weben. Sie gewöhnen sich an Geld als Zahlungsmittel, den Import ausländischer Konsumgüter sowie den Einfluss der Weltkonjunktur, später auch an Lohnarbeit in der Fabrik. Mit dieser neuen Arbeitsform entstehen neue Abhängigkeiten: Als Arbeitnehmerinnen und -nehmer sind Frauen, Männer und Kinder finanziell von den Fabrikherren abhängig. Nebst dem Zahltag regeln die Fabrikordnungen auch die Arbeitszeit.

Diese neuen Lebenswelten sind im autobiografischen Roman «Hans Grünauer» von Jakob Senn eindrücklich geschildert. Senn beschreibt das Heranwachsen von Hans Grünauer als Bauernsohn und Heimarbeiter.

Spurensuche im Zürcher Oberland – Ausflüge in eine nicht allzu ferne Vergangenheit

Der Boom der Textilindustrie im Zürcher Oberland dauert bis nach dem Zweiten Weltkrieg an. Veränderte Konsumgewohnheiten, Billigimporte aus Asien und Währungsprobleme führen jedoch zum Niedergang. Fabriken werden zu Industrie-Museen, Produktionsanlagen zu Kulissen für Industrielehrpfade (Industriepfad Zürcher Oberland; Industrieweg Winterthur).

Wer mit dem Zug nach Neuthal reist, trifft im spektakulären Industrie-Ensemble der Fabrik Neuthal auf eine Webstuhlsammlung. Das Fabrikareal ist einzigartig in der Schweiz und repräsentiert typische mechanische Textilfabriken des 19. Jahrhunderts. Es umfasst originale Betriebs- und Lagerräume, Wasserkraftanlagen und Turbinen zum Antrieb der Textilmaschinen. Auch die Fabrikantenvilla des Gründers Adolf Guyer-Zeller und die Wanderwege, die er zum Wohle seiner Mitarbeitenden anlegen liess, sind bemerkenswert.

Die weltweit einzigartige Web- und Textilmaschinensammlung ist so der Öffentlichkeit in einem authentischen Umfeld zugänglich. Dies ermöglicht die Pflege einer Erinnerungskultur zur Industrialisierung in der Schweiz des 19. Jahrhunderts.

Literaturhinweise


Daniel Stettler, Fachreferent/Liaison Librarian Wirtschaftswissenschaften
Bildkonzept und -recherche: Marco Geissbühler, wissenschaftlicher Bibliothekar in Ausbildung
Oktober 2024

Header-Bild: Webereien in Laupen bei Wald ZH um 1860. (Bild: ZB Zürich)