Die Heimat spielend verteidigen – Zürcher Militärkartographie
Kriege im Osten zeigen auf, dass das Schweizer Militär nicht auf der Höhe der Zeit ist. Es gilt Lücken in der eigenen militärischen Aufklärung zu schliessen, so der Eindruck vieler Zürcher Offiziere – für einmal nicht im gegenwärtigen Geschehen, sondern vor mehr als 250 Jahren.
Die Zürcher Militärgeographen der Mathematisch-Militärischen Gesellschaft
Zehn Zürcher Offiziere gründeten 1765 eine Gesellschaft zum gemeinsamen Studium technisch-mathematischer Grundlagen – unter anderem für eine verbesserte Militärkartographie. Diese «Mathematisch-Militärische Gesellschaft» unternahm jährlich Begehungen an einem Grenzabschnitt des Zürcher Gebiets, um die militärgeographischen Verhältnisse zu studieren. Dabei wurde die Grenzregion zwischen 1787 und 1792 gründlich neu vermessen. Die ehrenamtlichen (!) Arbeiten erfolgten unter der Aufsicht des im Ausland ausgebildeten Ingenieurs und Schanzenherrn Johannes Feer (1763–1823).
Ein handschriftlicher Grenzatlas mit neun Blättern entstand 1795 aus der Feder des Gesellschaftsmitglieds und Kartographen Hans Caspar Hirzel (ca. 1774–1818). Dazu gehört ein 20 Seiten langes Verzeichnis der Grenzsteine. Gemessen an der geringen Zahl beteiligter Personen erstaunt das Resultat. Aus Gründen der Geheimhaltung verbot sich eine Vervielfältigung.
Planspiele auf der «Siegfriedkarte»
Ab den 1870er-Jahren publizierte das Eidgenössische Stabsbureau den «Topographischen Atlas der Schweiz» («Siegfriedkarte»). Plötzlich waren grossmassstäbliche Karten zur ganzen Schweiz für ein allgemeines Publikum erhältlich. So erübrigte sich das kartographische Geheimarchiv der Mathematisch-Militärischen Gesellschaft und sie schenkte es 1882 dem zivilen «Kartenverein». Für den Verein bedeutete dies einen namhaften Zuwachs von insgesamt 379 Karten. Zwölf Jahre später löste sich der Kartenverein auf und die Karten gelangten an die Stadtbibliothek, eine Vorgängerinstitution der heutigen Zentralbibliothek Zürich.
In den Wintermonaten pflegten die Offiziersgesellschaften Zürich und Winterthur das – als Wortschöpfung heute nicht mehr denkbare – «Kriegsspiel», wobei die Stabsoffiziere Planspiele auf Karten im Sinne einer taktischen Weiterbildung durchführten. Zuerst fanden dafür zusammengeklebte Blätter der «Siegfriedkarte» Verwendung.
Grösser, plastischer, farbiger: die Planspiel-Karten von Hauptmann Andreas Hefti
Bei diesen Planspielen der Offiziersgesellschaften machte es der Massstab von 1:25‘000 für die Umstehenden allerdings schwierig, aus der Distanz Details und Namen zu erkennen. Hauptmann Andreas Hefti (1862–1931) erschuf deshalb ab 1895 auf der Basis der Siegfried-Blätter die vergrösserten und aussergewöhnlich schönen Reliefkarten 1:10'000 zum Kanton Zürich, wie Arthur Dürst darlegt. Durch die neuartigen Geländeschummerungen liess sich die für den Manöververlauf wichtige Topographie nun auch aus der Distanz plastisch lesen.
Wir können uns vorstellen, wie sich die Männer rund um die auf dem Wirtshausboden ausgelegten Karten versammelten und lebhaft diskutierten. Dabei nahm nur schon die zusammengefügte Karte etwa 15 Quadratmeter ein. Man glaubt beim näheren Hinsehen da und dort auch noch einen kleinen Rotweinfleck zu erkennen.
Von den ursprünglich 28 handgezeichneten Blättern konnten in den über hundert Jahren, in denen sich das Kartenwerk in Privatbesitz befand, 24 Blätter in gutem Zustand erhalten werden. Seit 2017 befinden sich Heftis «Kriegsspiel-Karten» in der Kartensammlung der Zentralbibliothek Zürich.
Ein Blick über die Landesgrenze hinaus – Kriegsschauplatz Südafrika
Um ihren taktischen Horizont zu erweitern, schauten die Zürcher Offiziere auch ins Ausland. In Südafrika tobte gerade der Zweite Burenkrieg (1899–1902), der in Europa mit grossem Interesse verfolgt wurde. Bei diesem Konflikt war in vielerlei Hinsicht eine Beschleunigung des Übergangs von traditionellen zu modernen Kriegstechniken zu beobachten. Zudem führten die deutschen Waffenlieferungen an die Buren zu geopolitischen Spannungen zwischen dem Kaiserreich und dem British Empire, das wiederum seine imperialistischen Ambitionen in Afrika offenbarte.
Hauptmann Hefti erstellte zur Übersicht eine grosse Karte, die 1900 in Zürich publiziert wurde (mit einer Nebenkarte der Schweiz als Referenzgrösse). Das Exemplar in der Zentralbibliothek trägt noch eine handschriftliche Widmung des Autors an Korpskommandant Hermann Bleuler vom 20. November 1900.
Für das Verständnis des Kriegsverlaufs war die Lesbarkeit des Reliefs von besonderer Bedeutung. Die weltweit geschätzten Erfahrungen aus der Schweizer Gebirgskartographie konnten hier wirkungsvoll umgesetzt werden.
Militärische Zürich-Karten aus früheren Zeiten
Die Zürcher Militärkartographie begann allerdings nicht erst 1765 mit der Gründung der Mathematisch-Militärischen Gesellschaft – damals war sie schon mehr als hundert Jahre alt. Bereits von 1644 bis 1660 erstellte Hans Conrad Gyger (1599–1674) unter dem Eindruck des Dreissigjährigen Krieges zehn Karten der Zürcher Landschaft, auf denen die Truppensammlungsplätze und deren Einzugsgebiete eingezeichnet sind. Gleichzeitig arbeitete er während mehr als drei Jahrzehnten an einer grossen handgemalten Reliefkarte des Zürcher Gebiets – ein Meisterwerk der plastischen Geländedarstellung, das wegen der militärischen Geheimhaltung lange Zeit nicht veröffentlicht werden durfte.
Beide Kartenwerke bewahrt das Staatsarchiv. In der Zentralbibliothek sind um einige Jahrzehnte jüngere handschriftliche Kopien dieser Militärquartierkarten und der «Kantonskarte» erhalten geblieben. Sie stammen meist von weiteren bedeutenden Kartographen; zum Beispiel von Johannes Müller (1733–1816), der wiederum eigene vermessungsgeschichtliche Meilensteine setzte.
Eine Zürcher Karte für einen schwedischen General
Nicht nur das Zürcher Gebiet, auch die Bodensee-Region kartographierte Hans Conrad Gyger bereits vor den Zeiten der Mathematisch-Militärischen Gesellschaft. Anders als Heftis Militärkarte von Südafrika diente die Bodensee-Karte aber als Hilfsmittel im Krieg: Gyger erstellte sie – mit dem Segen der Zürcher Obrigkeit – während des Dreissigjährigen Kriegs für den schwedischen General Graf Gustav Horn (1592–1657). Die Karte hat einen ungefähren Massstab von 1:50'000 und der Kartograph schloss die Arbeit daran 1633 ab, wie der Zürcher Kartographiehistoriker Samuel Wyder herausgefunden hat.
General Horn zog durch die Gemeine Herrschaft Thurgau und belagerte von der Schweizer Seite aus die Stadt Konstanz. Sein Heer plünderte die Schlösser Neuhorn und Romanshorn und zerstörte sie zum Teil. Winterthur unterstützte den Feldzug mit Lebensmitteln und Schwarzpulver. Gygers Bodensee-Karte überdauerte den Feldzug und gelangte vor gut zwanzig Jahren aus schwedischem Privatbesitz in die Kartensammlung der Zentralbibliothek Zürich.
Dr. Jost Schmid-Lanter, Leiter Abteilung Karten und Panoramen
Juli 2024
Header-Bild: Ausschnitt einer Kriegsspielkarte von Hauptmann Andreas Hefti, 1895/96. (ZB Zürich)