Im Anfang war das Geld – 100 Jahre erfolgreicher genossenschaftlicher Wohnungsbau in Zürich
Vor hundert Jahren traf der Grosse Stadtrat eine politische Entscheidung, die Zürich seither nachhaltig prägt: Die Bedingungen für den gemeinnützigen Wohnungsbau wurden neu geregelt, um entsprechende Bauprojekte stärker zu fördern. Erst so konnten die Zürcher Baugenossenschaften florieren.
Die Zürcher «Grundsätze»
Die Neuregelung trat 1924 in Form der «Grundsätze betreffend die Unterstützung des gemeinnützigen Wohnungsbaues» in Kraft. Das Fördergeld stammt in Zürich unter anderem aus Rahmenkrediten, über welche die Stimmberechtigten entscheiden. Ergänzt wird das durch Restfinanzierungsdarlehen, die 1924 auf bis zu 94% angehoben wurden. Gleichzeitig beschloss die Stadt, sich mit bis zu 10% am Kapital von Genossenschaften zu beteiligen.
Die «Grundsätze» wurden in den folgenden Jahrzehnten nur geringfügig angepasst und blieben bis 2012 gültig. Die seither geltende Version ist weitgehend mit der alten identisch, erlaubt der Stadt nach Ablauf des Baurechts aber eine Nutzungsänderung, falls das Grundstück einem anderen öffentlichen Interesse dienen soll.
Den Anstoss zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus gaben Zeiten mit akuter Wohnungsknappheit. Seither hat sich die Förderung langfristig bewährt und ist auch heute, wo Stadt und Umland neue Bewohnerinnen und Bewohner anziehen, von grosser Bedeutung.
Die Fördermassnahmen zeigen Wirkung
Mit der Unterstützung des gemeinnützigen Wohnungsbaus gleicht Zürich gesellschaftliche Härten des kommerziellen Immobilienmarktes aus. Denn ein Kennzeichen des gemeinnützigen Wohnungsbaus ist die Kostenmiete, die Bau und Unterhalt finanziert; die Vermieterinnen und Vermieter verzichten auf Gewinn.
Die enorme Wirkung der Zürcher «Grundsätze» zeigt sich an eindrücklichen Zahlen: Etwa ein Viertel aller Stadtzürcher Wohneinheiten sind gemeinnützig. Die Unterstützung der Genossenschaften trug am meisten zu dieser stattlichen Anzahl bei: Ungefähr drei Viertel aller gemeinnützigen Wohnungen gehören zu ihrem Bestand – 18% aller Stadtzürcher Wohneinheiten. Die restlichen gemeinnützigen Wohnungen befinden sich im Besitz der Stadt und ihrer Stiftungen. Der schweizweite Marktanteil gemeinnütziger Wohnbauträger liegt nur bei 5%, im Kanton Zürich sind es 10%.
2022 gab es in der Stadt Zürich 41 352 Genossenschaftswohnungen – so viele, dass sie einigen Zürcher Quartieren ein besonderes Gesicht geben. Die grosse Anzahl unterstreicht den Erfolg der Fördermassnahmen.
Vorteile für alle
Die Zahlen zeigen, dass die Unterstützung des gemeinnützigen Wohnungsbaus in der Stadt Zürich weiten Teilen der Bevölkerung zugutekommt. Man wollte kluge Wohnpolitik mit wirkungsvoller Sozialpolitik verbinden und das ist gelungen.
Darüber hinaus können die Behörden mit der Wohnbauförderung die Stadt gestalten. Denn wenn eine Genossenschaft Fördergelder erhält, ist die Stadt im Vorstand vertreten und kann so die kommunale Entwicklung beeinflussen. Zudem sehen die Förderauflagen Architekturwettbewerbe vor. Dadurch sind oft verantwortungsvoll und gut gestaltete Wohnbauten entstanden. Nicht zufällig gelten genossenschaftliche Bauten heute teils als wertvolles historisches Erbe.
Neben Geld hat Zürich für gemeinnützige Wohnbauprojekte in grossem Umfang eigenes, zum Teil neu dafür erworbenes Land im Baurecht zur Verfügung gestellt. Auf diesen Grundstücken ist neben gemeinnützigen Wohnbauten auch anderes entstanden, was eine funktionierende und lebenswerte Stadt braucht: Verkehrsinfrastrukturen, Schulen, Grünflächen und vieles mehr. Davon profitiert oft die ganze Bevölkerung.
Ein Rückblick in sechs Etappen
Die Stadt Zürich förderte den gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungsbau in geringerem Ausmass bereits vor den «Grundsätzen» von 1924. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung war es dringend nötig. Über die darauffolgenden Jahrzehnte und bis in die nahe Vergangenheit veränderten sich die genossenschaftlichen Wohnbauten architektonisch, auch sie sind Kinder ihrer jeweiligen Zeit.
Status quo im Jubiläumsjahr
Nach nunmehr hundert Jahren «Grundsätze» fragt sich, wie die Zukunft aussieht. Aktuelle Projekte wie das im Bau befindliche Koch-Areal, an dem Genossenschaften massgeblich beteiligt sind, zeigen, dass die Entwicklung weitergeht. Wohnbaugenossenschaften müssen sich an neue Gegebenheiten anpassen: Die Bevölkerung hat sich gewandelt und mit ihr die Erwartungen an das Wohnen, zum Beispiel an Ökologie und Nachhaltigkeit.
Trotz kleinerer Haushalte ist der Flächenbedarf jedes Einzelnen gewachsen. Dem kann unter anderem ein experimentierfreudiger Umgang mit vielfältigeren Grundrisstypologien entgegenwirken. Auch die gemeinschaftliche Nutzung von Einrichtungen durch alle Mieterinnen und Mieter, welche zudem die kulturelle Durchmischung und den sozialen Zusammenhalt stärkt, führt zu innovativen Lösungen. Auf diese Weise ist attraktive Genossenschaftsarchitektur heute ein Aushängeschild, das neue Zürcherinnen und Zürcher in die Stadt führt und hier heimisch werden lässt.
Genossenschaftliches Bauen in Zürich: weiterlesen
- «Kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbau in Zürich. Ein Inventar der durch die Stadt geförderten Wohnbauten 1907–1989» herausgegeben von der Stadt Zürich, Finanzamt und Bauamt II
- «Wegweisend wohnen. Gemeinnütziger Wohnungsbau im Kanton Zürich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert» herausgegeben von Christian Caduff und Jean-Pierre Kuster
- «Mehr als Wohnen. Gemeinnütziger Wohnungsbau in Zürich 1907–2007. Bauten und Siedlungen» herausgegeben von der Stadt Zürich, Amt für Hochbauten
- «Wohnen morgen. Standortbestimmung und Perspektiven des gemeinnützigen Wohnungsbaus» herausgegeben von der Stadt Zürich und dem Schweizerischen Verband für Wohnungswesen
- «Wohngenossenschaften in Zürich: Gartenstädte und neue Nachbarschaften» herausgegeben von Dominique Boudet
- «Wohnen», die Zeitschrift von Wohnbaugenossenschaften Schweiz, dem Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger, online und print
- Festschriften und andere Publikationen von Zürcher Wohnbaugenossenschaften finden Sie via Swisscovery
Dr. Lothar Schmitt, Fachreferent/Liaison Librarian für Kunst, Architektur und Archäologie
Januar 2024
Header-Bild: Die Kolonie der Genossenschaft Eigen Heim am Zürichhorn in Zürich um die Jahrhundertwende, Ausschnitt. (ZB Zürich)