Der Künstler Oskar Kokoschka in seinem Atelier – das er selber «Bibliothek» nannte – in Villeneuve VD, 1969. Am Genfersee fand er seine Seelenheimat (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 74 / Foto: Erling Mandelmann, © R. & B. Mandelmann)
Der Künstler Oskar Kokoschka in seinem Atelier – das er selber «Bibliothek» nannte – in Villeneuve VD, 1969. Am Genfersee fand er seine Seelenheimat (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 74 / Foto: Erling Mandelmann, © R. & B. Mandelmann)

«Ich bin gerne bereit zu sagen, was ich gesehen habe; denn ich bin ein Mensch, der mit den Augen die Welt erlebt und nicht mit den Ohren.»

Oskar Kokoschka in seiner Autobiografie «Mein Leben»

Oskar Kokoschka und Zürich

Dass sich der schriftliche Nachlass des weltberühmten Malers Oskar Kokoschka heute in der Zentralbibliothek Zürich befindet, erstaunt viele. Der Künstler, der seine Staatszugehörigkeit mehrmals wechselte und in verschiedenen Ländern wohnte, hat nie über längere Zeit hier gelebt.

Eine Einladung seines Förderers Adolf Loos führte den 23-Jährigen Anfang 1910 erstmals in die Schweiz. Am Genfersee porträtierte er Tuberkulose-Patienten und entwickelte seine künstlerische Vision. (Später datierte er diesen Aufenthalt auf 1908 vor, um sich als Vorreiter des Expressionismus darzustellen.) 1912 reiste er mit seiner Geliebten Alma Mahler zum zweiten Mal in die Schweiz und malte im Berner Oberland.

Zürich spielte in seiner Laufbahn früh eine wichtige Rolle, wie die nachfolgenden Streiflichter zeigen.

Der Nachlass in der ZB Zürich

Olda Kokoschka (1915–2004), der Witwe des Künstlers, ist es zu verdanken, dass der schriftliche Nachlass 1981 der ZB Zürich zugesprochen wurde. Die Vision des damaligen Musikabteilungsleiters Dr. Günter Birkner, in Zürich einen Kokoschka-Schwerpunkt zu schaffen, überzeugte sie. 1982 fand eine erste Übergabe statt. 1988 rief die Witwe die Fondation à la mémoire de Oskar Kokoschka (FOK) mit Sitz in Vevey ins Leben, in deren Obhut der künstlerische Nachlass gegeben wurde.

Dank dem unermüdlichen Einsatz namentlich von Günter Birkner und Hermann Köstler, ZB-Direktor und im Stiftungsrat der FOK, gelangten über Jahrzehnte weitere Nachlass-Teile und Zukäufe in die ZB Zürich.

Oskar und Olda Kokoschka, New York 1966 (Oskar Kokoschka Zentrum, Universität für angewandte Kunst Wien, IN 10.860/1/FP / Foto: Trude Fleischmann)
Oskar und Olda Kokoschka, New York 1966 (Oskar Kokoschka Zentrum, Universität für angewandte Kunst Wien, IN 10.860/1/FP / Foto: Trude Fleischmann)

Die letzte Tranche bildete 2004 der Nachlass der Witwe mit Lebensdokumenten (z.B. Notizbücher, Agenden, Ausweise), Fotos, frühen Familienbriefen und Korrespondenz nach 1980, verschiedenen vom Künstlerpaar angelegten Dokumentationen und Arbeiten anderer über Kokoschka. Durch Zukäufe reichert die ZB Zürich diesen Kernbestand laufend an.

Im Folgenden werden drei Schwerpunkte vorgestellt, die im Nachlass reich dokumentiert sind: Kokoschka als Porträtist, als Dichter und Schriftsteller und als Briefschreiber.

Der Porträtist

Kokoschka zählt zu den bedeutendsten expressionistischen Porträtmalern des 20. Jahrhunderts. Er malte Berühmtheiten wie den Cellisten Pablo Casals, Politiker wie Konrad Adenauer, führende Experten ihrer Zeit wie Auguste Forel, Künstler und Kunstfreunde wie den Winterthurer Mäzen Werner Reinhart und viele nicht näher bekannte Gesichter an den Orten, die er auf seinen Reisen besuchte.

Dabei ging es ihm nicht um das äussere Abbild, sondern um die wesentlichen Eigenschaften der porträtierten Person – um ihre geistige oder seelische Physiognomie.

1948 malte Oskar Kokoschka in Fiesole dieses eindringliche Selbstbildnis in Öl auf Leinwand, 65,5 x 55 cm. Es befindet sich in der Fondation Oskar Kokoschka, Musée Jenisch, Vevey  (Bild: © Fondation Oskar Kokoschka / 2021, ProLitteris)
1948 malte Oskar Kokoschka in Fiesole dieses eindringliche Selbstbildnis in Öl auf Leinwand, 65,5 x 55 cm. Es befindet sich in der Fondation Oskar Kokoschka, Musée Jenisch, Vevey (Bild: © Fondation Oskar Kokoschka / 2021, ProLitteris)

Aus Briefen von und über diejenigen, die ihm Modell sassen, gehen interessante Details über die Malsitzungen und fortdauernde Freundschaften hervor. Immer wieder porträtierte Kokoschka auch sich selber und befragte malend seinen seelischen Zustand. Das Augenpaar in unserem Header stammt aus dem «Selbstbildnis (Fiesole)» von 1948.

Der Erzähler, Dramatiker und Mahner

Oskar Kokoschka war auch ein kühner Bühnenautor, ein begabter Geschichtenerzähler und ein eigenwilliger Redner. Die Schriftstellerei war für ihn einerseits eine schöngeistige Beschäftigung und sozialpolitisches Engagement, andererseits eine Einnahmequelle. Die «NZZ» bezeichnete seinen Redestil 1953 als «bekenntnishafte Causerie» und «einziges Manifest wider etwas, das er als das Akademische bezeichnet».

Die schriftlichen Werke im Nachlass umfassen eigenhändige Notizen zu kunstgeschichtlichen und politischen Essays, Vorträge, frühe Entwürfe seiner Erzählungen und Theaterstücke, dazu Zwischenversionen, Umarbeitungen für die Edition, unveröffentlichte Texte und Übersetzungen.

Dieses eigenhändige Manuskript von Kokoschkas «Lebensgeschichte» (1933) erwarb Olda Kokoschka um 1981 im Auktionshandel zurück (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 5a)
Dieses eigenhändige Manuskript von Kokoschkas «Lebensgeschichte» (1933) erwarb Olda Kokoschka um 1981 im Auktionshandel zurück (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 5a)

Der Briefschreiber

Die Menge der in der ZB Zürich aufbewahrten Briefe an, von und über Oskar und Olda Kokoschka ist überwältigend: über 25'000. Es handelt sich sowohl um Originale als auch um Abschriften und Kopien.

Von 1984 bis 1988 veröffentlichten Olda Kokoschka und Heinz Spielmann eine Auswahl der von Kokoschka geschriebenen Briefe in vier Bänden. Mit dem Nachlass gelangten zahlreiche der dazugehörigen Gegenbriefe in die ZB.

Diese schier unüberschaubare Korrespondenz ist eine reiche Quelle für die Forschung. Sie umfasst das ganze Spektrum zwischenmenschlicher Kommunikation: vom Liebesbrief bis zum bitteren Vorwurf, Flirtereien mit jungen Damen und euphorische Berichte samt humorvollen Zeichnungen, Geschäftliches und Tiefpersönliches, Grusskarten, auch Handwerkerrechnungen, Visitenkarten und Belege.

Kokoschka versah Briefe an seine Familie und seine Freunde oft mit witzigen Zeichnungen. Hier erklärt er seiner Schwester Berta (Bibschl) Patocka den Trick mit zwei Spiegeln für ein gelungenes Selbstporträt. Dezember 1959 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 24.8)
Kokoschka versah Briefe an seine Familie und seine Freunde oft mit witzigen Zeichnungen. Hier erklärt er seiner Schwester Berta (Bibschl) Patocka den Trick mit zwei Spiegeln für ein gelungenes Selbstporträt. Dezember 1959 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 24.8)

Oskar Kokoschka im Zeitraffer: Lebensstationen

Mit Datierungen nahm es Oskar Kokoschka oft nicht so genau − teils aus Nachlässigkeit, teils weil er sein Image steuern und sich durch Vordatierungen in der Kunstgeschichte als «frühreifes Genie» platzieren wollte (mehr dazu bei Régine Bonnefoit).

Die Biografen zu Kokoschkas Lebzeiten litten unter der chronologischen und biografischen Konfusion in seinen Angaben. Nachforschungen im schriftlichen Nachlass haben seither manche Klarstellung ermöglicht.

Zu jeder Station in diesem reichen Künstlerleben finden sich Spuren in der ZB Zürich.

Sammlungen und Dokumentationen

Eine der über 590 Reisepostkarten von Oskar Kokoschka. Er markierte seinen Malplatz in Tunis rechts aussen: «Ich male auf dem Dach, wo ein Zeichen darauf ist.» 10. Januar 1928 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 205.1.7)
Eine der über 590 Reisepostkarten von Oskar Kokoschka. Er markierte seinen Malplatz in Tunis rechts aussen: «Ich male auf dem Dach, wo ein Zeichen darauf ist.» 10. Januar 1928 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 205.1.7)

Der Nachlass enthält verschiedene Sammlungen und Dokumentationen des Ehepaars Kokoschka, die mehr oder weniger vorsortiert an die ZB Zürich gelangten, darunter:

Oskar Kokoschka live

Oskar Kokoschka mit Teilnehmenden seiner «Schule des Sehens» an der Internationalen Sommerakademie in Salzburg, um 1954 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 275.10 / Foto: © Internationale Sommerakademie Salzburg)
Oskar Kokoschka mit Teilnehmenden seiner «Schule des Sehens» an der Internationalen Sommerakademie in Salzburg, um 1954 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 275.10 / Foto: © Internationale Sommerakademie Salzburg)

Haben wir Ihr Interesse für den Künstler Oskar Kokoschka und seine Lebensspuren in der Zentralbibliothek Zürich geweckt? Möchten Sie vor Ort einen Einblick in das Universum Kokoschka erhalten? Auf Anfrage führt die Nachlassbearbeiterin Monica Seidler-Hux Präsentationen für Gruppen ab zehn Personen durch. Bitte melden Sie sich bei uns:

Recherchehilfe

Sind Sie auf der Suche nach Kokoschkas Spuren? Der schriftliche Nachlass von Oskar und Olda Kokoschka kann im Archivportal zbcollections.ch durchsucht und im Handschriftenlesesaal eingesehen werden. Als Einstieg haben wir ein Merkblatt zusammengestellt. Bei Fragen wenden Sie sich bitte direkt an die Handschriftenabteilung:

Urheberrecht

Ein Beispiel für Oskar Kokoschkas oft skurrile Briefzeichnungen: «Ein Affe schaut den andern an», Sommer 1926 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 51.1)
Ein Beispiel für Oskar Kokoschkas oft skurrile Briefzeichnungen: «Ein Affe schaut den andern an», Sommer 1926 (ZBZ, Nachl. O. Kokoschka 51.1)

Der vorliegende Text wurde von Monica Seidler-Hux, Kunsthistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Handschriftenabteilung, auf Grundlage der im Merkblatt zur Recherche aufgeführten Standardliteratur und von Originaldokumenten im Nachlass verfasst.

Kokoschkas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Copyright liegt bei der Fondation Oskar Kokoschka, Vevey / 2021, ProLitteris, Zürich. Sämtliche Reproduktionen sowie jede andere Nutzung ohne Genehmigung durch ProLitteris – mit Ausnahme des individuellen und privaten Abrufens der Werke – ist verboten. Copyright der übrigen Abbildungen (Dokumente, Fotos) gemäss Bildnachweis.

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Monica Seidler-Hux, wissenschaftliche Mitarbeiterin Handschriftenabteilung
November 2021


Header-Bild: Oskar Kokoschka, «Selbstbildnis», Fiesole 1948 (© Fondation Oskar Kokoschka / 2021, ProLitteris)